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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1290-1291

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Reydon, Thomas

Titel/Untertitel:

Wissenschaftsethik. Eine Einführung.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Eugen Ulmer 2013. 143 S. = UTB 4032. Kart. EUR 14,99. ISBN 978-3-8252-4032-5.

Rezensent:

Jörg Dierken

Auch in ihrer systemisch durchorganisierten Form wird Wissenschaft durch menschliches Handeln, das durch einen Zusammenhang von Absichten und Zielen gekennzeichnet ist, hervorgebracht. Damit wird der Vollzug von Wissenschaft als solcher zum ethischen Thema. Im Kontext zunehmend ausdifferenzierter ethischer Bereichsdisziplinen reflektiert die Wissenschaftsethik deren Besonderes im Horizont des für Normativität maßgeblichen Abgleichs mit dem Allgemeinen. Ihr thematisches Spektrum reicht von einer ethisch geprägten Wissenschaftslehre über Handlungsmuster von Akteuren und Organisationsstrukturen von Institutionen der Wissenschaft bis hin zu deren gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen.
Thomas Reydon fokussiert in seiner an Studierende der Lebens- und Naturwissenschaften adressierten Einführung explizit nur den mittleren Bereich dieses Spektrums, wenngleich faktisch sowohl Stichworte der Wissenschaftstheorie abgerufen als auch Fragen aus Wissenschaftspolitik und Technikfolgenabschätzung angesprochen werden. Wissenschaftsethik ist für ihn die akade-mische Reflexion der mit Wissenschaft verbundenen moralischen Herausforderungen, nicht jedoch deren autoritative Beantwortung. Wenngleich redundant vorgetragen und nicht gegenüber dem ganzen Feld prominenter Begriffe in Sachen Ethik, Moral und Sittlichkeit usw. gerechtfertigt, dürfte das wissenschaftsethische Programm auch für Theologiestudierende bedeutsam sein: Es gilt, für moralische Implikationen von Wissenschaftsverfahren zu sensibilisieren, ohne in triviales Moralisieren zu verfallen. Letzteres lässt sich bei Geisteswissenschaftlern eher beobachten, während bei Naturwissenschaftlern mitunter die Wahrnehmung ethischer Probleme zu stärken sein dürfte.
Das Buch wirkt auf den ersten Blick übersichtlich gegliedert, auf den zweiten wirft es freilich auch Fragen auf. Einleitend wird die »Bedeutung der Wissenschaftsethik« herausgestellt (9 ff.). Schon hier zeigt sich das faktische Gefälle des ganzen Buches auf sogenannte »gute wissenschaftliche Praxis« (13) hin. Ihr Bereich liegt zwischen einer Verfahrenstechnik der Wissenschaft und den durch das Recht, etwa im Blick auf Urheberschaft und geistiges Eigentum, gezogenen Grenzen. Die folgenden Ausführungen zur Frage »Was ist Ethik?« (19 ff.) geben knappe Hinweise auf ethische Grundbegriffe wie Tugenden, Pflichten und Folgen, was den Bemerkungen zu tugendethischen, deontologischen und konsequentialistischen Ethiktypen entspricht. Den güterethischen Typ sucht man vergebens, gleiches gilt für die Strebestruktur des Handelns, Konzepte institutionalisierter Sittlichkeit oder basale Normen wie die goldene Regel. Erst im dritten Kapitel führt R. aus, dass Wissenschaft »nicht wertfrei« ist (37 ff.). Diese Überlegungen hätten zu Anfang einen hilfreichen Ausgangspunkt des Buches abgeben können. Freilich kommt R. nach Bemerkungen zu epistemischen und nichtepistemischen Werten recht bald auf die »gute wissenschaftliche Praxis« zurück, die er im Anschluss an R. Merton als »Berufsethos der Wissenschaft« beschreibt (47) und durch Merkmale wie Universalismus, Kommunalismus, Uneigennützigkeit und organisierte Skepsis charakterisiert. Diese wird in solcher Abstraktheit kaum jemand bestreiten. Sie müssen sich jedoch im Blick auf die sodann erörterte »Verantwortung des Wissenschaftlers« bewähren lassen. R. spezifiziert diese in einer »wissenschaftsinterne(n)« und einer »-externe(n)« Hinsicht (61 ff.80 ff.). Der ethisch bedeutsame Begriff der Verantwortung wird allerdings erst im zweiten Teil der diesbezüglichen Abschnitte expliziert, und zwar vor allem mit Blick auf F. Bacon, H. Jonas und U. Beck. Die wissenschaftsexternen Konkretionen des Berufsethos zeigen etliche Überlappungen mit Verfahren von Technikfolgenabschätzung und Risikobewertung. Demgegenüber beziehe sich die wissenschaftsinterne Verantwortung auf die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis in der institutionalisierten akademischen Community.
R. diskutiert insbesondere Publikationsregeln angesichts von Phänomenen wie Plagiat, Mehrfachveröffentlichung und Co-Autorschaft. Unerörtert bleibt hingegen, wie kontingent solche Regeln sind: Die interessante Frage, ob etwa die mittelalterliche Praxis des ungekennzeichneten Aufbietens von Autoritäten als Plagiieren zu bewerten ist, mutet R. seinen Lesern nicht zu. Er schärft vielmehr wiederum Kriterien für »gute wissenschaftliche Praxis« ein, so sein nächstes Kapitel (98 ff.112). Es bewegt sich nah an einschlägigen Katalogen der Homepages von Wissenschaftsförderungseinrichtungen, und es geht nahtlos zu allgemeineren Themen wie dem ärztlichen Berufsethos oder urheberrechtlichen Betrugsfällen über. Ethisch orientierte Urteilskraft wäre hilfreich für erforderliche Differenzierungen gewesen, wo R. offenbar fixes »Orientierungswissen« (121) zu vermitteln beansprucht. Abschließend geht es um »Ethik im Wissenschaftsmanagement« (122 ff.). Ob das ein Thema für den wissenschaftsethischen Anfängerkurs ist, sei dahingestellt – so sehr man dem Idealbild einer »wohlgeordneten Wissenschaft« (125) gern zustimmen wird.
Wissenschaftsethik bleibt eine Herausforderung, insbesondere angesichts der Eigendynamik natur- und lebenswissenschaftlich-technischer big science. Diese hat R. in besonderer Weise im Auge, und hierüber ist auch von geistes- und sozialwissenschaftlicher Seite nachzudenken. Dazu bedarf es nicht nur der Kenntnis ethischer Grundbegriffe und Prinzipien, sondern auch der Information über wissenschaftspolitische Erwartungen und finanzielle Interessen. Sie setzen sich im Wissenschaftssystem selbst in Machtfaktoren um. So sehr zu deren Regulierung zu Recht auf »gute wissenschaftliche Praxis« abgestellt wird, so sehr geht sie in die diskussionsentzogene Macht politischer Korrektheit über, wenn jene Voraussetzungen und Hintergründe zur kritischen Reflexion der Wissenschaftspraxis abgeblendet werden.