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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1265-1267

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Tück, Jan-Heiner, u. Andreas Bieringer[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»Verwandeln allein durch Erzählen«. Peter Handke im Spannungsfeld von Theologie und Literaturwissenschaft.

Verlag:

Freiburg. i. Br.: Verlag Herder 2014. 244 S. Geb. EUR 19,99. ISBN 978-3-451-32673-8.

Rezensent:

Hans Weder

»›Folgen Sie mir unauffällig!‹, das sagt auch der Schriftsteller zu seinem Leser« (Alex Stock, 101). Dieser Bitte Handkes sucht der vorliegende Band zu entsprechen, jedenfalls in einem vernünftigen Maß, und ohne auf notwendige Analysen zu verzichten. Was hier aus der Perspektive von Theologie und Literaturwissenschaft erschlossen wird, ist nichts Geringeres als ein neuer Zugang zum Religiösen, angeleitet durch die auch in dieser Hinsicht bemerkenswerten Texte Peter Handkes. Autorinnen und Autoren folgen den Texten unauffällig. Statt bloß zu kritisieren und zu analysieren, lassen sie sich von Handke Einsichten zuspielen, die sich der Substanz der christlichen Texte verdanken. Dabei geschieht auf vielerlei Weise eine Art Neuentdeckung der in alten Formeln und Denkweisen gefangenen Inhalte. Theologen und Exegeten: »Sie wissen viel. In zweitausend Jahren scheint alles schon einmal gesagt und ge­schrieben.« (102)
Alex Stock ruft einen Satz Handkes in Erinnerung (ebd.): »Denken ist für mich: ein altes Wort neudenken (sonst kenne ich kein Denken).« Und fragend schließt er daraus: »Könnte der Schriftsteller, der Denken so denkt, den in den alten Worten Gefangenen zu Hilfe kommen?« (Ebd.) Diese Hilfe erfährt im vorliegenden Sammelband an manchem Ort, wer genau liest und geduldig den Überlegungen nachdenkt, mit denen die Autorinnen und Autoren dem Schriftsteller unauffällig zu folgen suchen.
Maßgebend für den Umgang mit Handkes Texten ist Alex Stocks Warnung: »Dem Dichter ist nichts heimlich Religiöses an­zudichten« (103). Dennoch ist es legitim, dass der Leser, die Leserin sich das Eigene denkt und alte Inhalte neu zu entdecken vermag. Wenn Alex Stock – um ein Beispiel zu nennen – in einem kleinen Gedicht Handkes mit der Überschrift »An den Morgen« die zwei Zeilen liest (»Die Vögel: Sine fine dicentes / Und alle Lieben leben.«, 102) und darin einen »Sprachrest« wahrnimmt, den »Schluss der Präfation der Messe« mit dem Hochgesang der himmlischen Heerschar, dann gerät er ins Denken: »Und er denkt, was er bisher so nicht gedacht hatte: Dass, wenn Himmel und Erde voll sind von seiner Herrlichkeit, pleni gloria tua, die Vögel in ihrem Morgenschwung vielleicht eine Kostprobe davon geben« (103). Dem Dichter wird nichts heimlich Religiöses angedichtet, und dennoch macht er den, der ins Denken kommt, aufmerksam auf ein Ge­heimnis des morgendlichen Vogelgesangs, ein Geheimnis, das im christlichen Glauben schon immer geborgen war.
Der vorliegende Sammelband, der sich einem interdisziplinären Symposium verdankt, das 2012 an der Universität Wien stattgefunden hat (10, Einleitung), unternimmt auf mannigfaltige Weise den Versuch, Handkes Texte als »Schule der Andacht und Aufmerksamkeit« zu erschließen (9, vgl. den Beitrag des Schriftstellers und Publizisten Erick Kock mit dem Titel »Die Andacht der Aufmerksamkeit oder: Der Weg führt nach innen. Versuch über Peter Handke«, 203–214). Nach einer sorgsamen Einführung in die Beiträge durch die Herausgeber (9–16) und einem kurzen Text von Peter Handke (»Wie ein Gewecktwerden für einen anderen Tag«, 17) sind die Beiträge nach bestimmten Gesichtspunkten gruppiert.
Der Abschnitt »Theologische Annäherungen« (19 ff.) versammelt zwei Autoren aus der Theologie. Elmar Salmann (21–28) identifiziert religiöse Übungsmotive bei Handke, die dem Leben dienen: »Übend ist das Leben unterwegs zu sich selbst« (23). Übungsfelder sind beide, Poesie und Religion (25). Handke gelingt es, durch Umbesetzung religiöser Motive ihre symbolische Kraft wieder zu entdecken (auch wenn dieses Verfahren selbst bei Handke durchaus mit Gefahren der Banalisierung verbunden ist, 26 f.). Handkes Größe sieht Salmann darin, »dass er ständig neu mit sich, dem Augenblick, der Welt, dem Begegnenden etwas anfangen kann und muss, darin dem ewigen Poeten-Schöpfer von ferne verwandt« (27). Jan-Heiner Tück (29–51) macht auf »Spuren einer eucharistischen Poetik im Werk Peter Handkes« aufmerksam. Dass der Dichter dem Erlebten eine sprachliche Form gibt, findet seine Analogie in der Verwandlung von Brot und Wein durch die Form der Worte (30 f.). Poesie und Messe können, wenn sie gelingen, beide eine Verdichtung der Wirklichkeit in Form von Sprache sein (36). In beiden geht es um die Kultur des Eingedenkens (37–44), welche die toten Vorfahren aus der Vergessenheit rettet. Beides, Poesie und Messe, bewirkt eine »Freude, die das Leben der andern nicht vergisst« (44–50).
Der Abschnitt »Literaturwissenschaftliche Zugänge« (53 ff.) lässt zwei Autoren aus der Germanistik zu Worte kommen. Helmut Kiesel (55 ff.) macht auf das Dramatische Gedicht »Über die Dörfer« aufmerksam, das – 1982 von der professionellen Kritik arg verrissen (unterdessen hat sich das Blatt allerdings gewendet) – einen Wendepunkt zumindest in Handkes Schaffen darstellt: »Über die Dörfer ist ein apokalyptisches Stück im eigentlichen Sinn; die Apokalypse wird in ihm nicht, wie um 1980 üblich, auf die Katastrophe reduziert, sondern als Offenbarung eines neuen Heils inszeniert« (60). Um Ver-klärung geht es, um eine realistische Verklärung allerdings, die im Namen der Wahrheit des Wirklichen geschieht: »Zur Verklärung gehört, dass das Negative nicht einfach verschwindet, sondern in einem neuen, milderen, heilsmäßigen Licht erscheint« (62). Das macht dieses Dramatische Gedicht zu einer »großen Ermutigung« (68). Hans Höller (69 ff.) verbindet Handkes Wendung zum Klassischen mit der Wiederentdeckung der Weltlichkeit der Bibel (70). Die klassische Dichtung Handkes ist »dazu angetan […], den Glanz der Weltdinge und unsere Freude in der Welt zu erhöhen« (73). Sie sei, so Höller, deshalb nicht auf »etwas Transzendentes« aus (ebd.). Da fragt man sich, was denn Transzendentes mehr sein kann als der Glanz, den die Dinge im Lichte ebenjener Transzendenz haben.
Der Abschnitt »Liturgische Spuren« (83 ff.) zeigt an Beispielen Beziehungen zwischen Liturgie und Poesie und erschließt Handkes liturgische Poesie als »Zelebration des Lebens« (Andreas Bieringer, 85 ff., der Ausdruck: 90). Dabei werden auch die »Verfallsformen« von Ritus und Literatur ins Auge gefasst (92). Für Handke ist es wichtig, »auf die Liturgie als archetypische Wandlungs- und poetische Ur-erfahrung zurückzugreifen« (100). Alex Stock (S. 101 ff.) macht aufmerksam auf die Bedeutung der »lateinischen Bruchstücke« in Handkes Werk (ein Beispiel wurde oben bereits in den Blick genommen).
Im Abschnitt »Beziehungswelten« (115 ff.) diagnostiziert Mirja Kutzer (117 ff.) bei Handke die zunehmende »Wahrnehmung einer Lücke, die der Geltungsverlust der Religion hinterlassen hat« (117) und analysiert die Dreieckskonstellation von Religion, Liebe und Erzählen. Die Liebe erscheint als »Raum der Transzendenz« (125 ff.); »je pessimistischer Handkes Figuren gegenüber den Realisierungen von Liebe werden, desto stärker erscheint die ihr zugeschriebene Erlösungskraft« (132 f.). Allerdings ist es nicht die Liebe, die den Zusammenhang zwischen Immanenz und Transzendenz zu wah ren vermag; es ist vielmehr »das durch die Liebe angestoßene Erzählen« (137). Klaus Kastberger (139 ff.) fühlt sich zwar »persönlich nicht unbedingt zuständig« für die »Offenbarung in ihrem religiösen Hintersinn« (139), zeigt aber dennoch, dass Handke »in seinem Schreiben immer wieder auf eine spezifische Art von Wahrheit aus« ist (141), auf eine Lebenswahrheit gleichsam, die jenseits der gegenwärtig üblichen Reduktion auf Meinungen und Behauptungen besteht und die mit dem Wort Offenbarung adäquat beschrieben ist: »Unbeirrt […] hält Handke daran fest, dass das Schreiben ein Offenbaren von Wahrheit ist und die Wahrheit sich im literarischen Werk anders herstellt als in den Routinen öffent-licher Meinungsfindung.« (Ebd.) Wer wäre für diese Offenbarung, für diese Wahrheit persönlich nicht unbedingt zuständig?
Im Abschnitt »Motive« (153 ff.) wird Unterschiedliches verhandelt: das »und« im Prozess von Erzählen und Verwandeln (Jakob Deibl, 155 ff.); Handkes weltliche Religion der Bilder (Anna Estermann, 175 ff.); die poetische Struktur des Sich-Erzählens in Raum und Zeit (Harald Baloch, 195 ff.).
Unter der Überschrift »Stimmen« (203 ff.) geht es um die »An­dacht der Aufmerksamkeit« (Erich Kock, 205 ff.), um die Natur, die auch Zeilen hat (Johannes Neuhardt, 215 ff.), um die »Verwandlung und Bergung der Dinge in Gefahr« (Festvortrag von Egon Kapellari am Symposium, 217 ff.), um »Sätze vom Meer« (von Arnold Stadler für Peter Handke, 233 ff.).
Der Reichtum an Einsichten und Dimensionen, welche durch die hier zusammengestellten eindringlichen und oft überraschenden Arbeiten in Handkes Werk erschlossen werden, konnte in der obigen Zusammenfassung nur fragmentarisch und unzulänglich wiedergegeben werden. Das Buch enthält eine reiche Fülle von Beobachtungen und Entdeckungen im Werk dieses interessanten zeitgenössischen Autors, dem es immer wieder gelingt, den tiefen Sinn religiöser Einsichten und Bräuche fruchtbar zu machen für die Bergung gefährdeter Erfahrung und so den in alten Worten gefangenen Wahrheiten des Lebens zu Hilfe zu kommen – oder eben: den Glanz der Dinge leuchten zu lassen.