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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1234-1236

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Sherwood, Aaron

Titel/Untertitel:

Paul and the Restoration of Humanity in Light of Ancient Jewish Traditions.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2013. XVII, 344 S. = Ancient Judaism and Early Christianity, 82. Geb. EUR 125,00. ISBN 978-90-04-23543-4.

Rezensent:

Dieter Sänger

Die Frage nach den Konstitutionsbedingungen und theologischen Begründungszusammenhängen der paulinischen Völkermission ist seit geraumer Zeit wieder verstärkt in das Blickfeld der neutes­tamentlichen Forschung gerückt. Katalytisch gewirkt hat die wieder neu aufgelebte Diskussion über das Verhältnis Israels zu den Völkern im heilsökonomischen Entwurf des Apostels. Einerseits attestiert er allen Menschen, der Sünde verfallen zu sein (Röm 3,9.22 f.), ohne Israel auszunehmen, das sich durch seine exklusive Gottesbeziehung von den Völkern unterschieden weiß. Andererseits äußert er im Anschluss an biblisch-jüdische Traditionen, denen zufolge die Völker eschatologisch Anteil haben am Erbe Israels, die Erwartung, Juden und Heiden seien am Ende in Christus vereint (vgl. Röm 15,7–13). Strittig ist, wie dieser Gedanke sich verhält zur gegenläufig akzentuierten, ebenfalls schriftbasierten Überzeugung, nur Israel sei Gottes Eigentumsvolk. Als Problemanzeige formuliert: Inwiefern bildet für Paulus Gottes endzeitliches Heilshandeln an den Völkern und die damit sich verbindende, das Moment des Partikularen transzendierende universale Perspektive einen integralen Bestandteil der speziell an Israel ergangenen Verheißungen? Mit seiner Studie, deren Erstfassung dem Department of Theology and Religion der Universität Durham 2010 als Dissertation vorlag (Betreuer: John M. G. Barclay), positioniert sich S. in einem Diskurs, der exegetisch und hermeneutisch gleichermaßen von Belang ist. Derzeit lehrt er als Assistant Professor für Neues Testament am Nyack College/New York.
In der »Introduction« (1–25) bietet S. zunächst anhand neuerer monographischer Untersuchungen (u. a. T. Donaldson, J. Scott, G. Holtz, M. Goodman) einen Überblick über den gegenwärtigen Status quaestionis, geht sodann kurz auf einige der später ausführlicher behandelten Texte ein (Röm 15,7–13; äthHen 10,16–11,2; 1Kön 8,41–43; Jes 2,2–4; Ps 46–48 [in dieser Reihenfolge]) und legt anschließend dar, warum er statt der Begriffe »universalism«, »inclusion« oder »conversion« den Terminus »unification« verwendet (»to refer generically to the phenomenon of Israel and the nations uniting in joint participation in Israel’s blessings and prerogatives« [19]).
Die beiden jeweils nach inhaltlichen Gesichtspunkten gegliederten Hauptteile werden durch ein Netz intertextueller Bezüge zusammengehalten. Der erste ist mit »The Unification of Israel and the Nations in Biblical Traditions« (27–147) überschrieben, der zweite mit »The Unification of Israel and the Nations in Pauline and pre-Pauline Traditions« (149–276). Angesichts der Vielzahl potenziell in Frage kommender Texte unterzieht S. vor allem jene einer quellenkritischen und literarischen Analyse, die ihm als repräsentativ erscheinen. Entscheidendes Kriterium »is a reference to Israel and the nations’ joint participation in Israel’s blessing (covenantal identity, pilgrimage, worship, prayer, festivals, restoration, God’s protection, deliverance, etc.)« (20). Damit wird aber schon im operativen Vorfeld eine Traditionslinie zur dominierenden erklärt, während quer zu ihr liegende Vorstellungen von vornherein ins Hintertreffen geraten und, wie sich später zeigt, weithin ausgeblendet werden. S. ist sich der methodischen Problematik seines Auswahlverfahrens durchaus bewusst (146.267), ohne ihr jedoch hinreichend Rechnung zu tragen. Dass die als exemplarisch eingestuften Referenztexte aus der nachbiblischen Literatur (äthHen, Tob, Sib III, Josephus) entgegen dem üblichen Sprachgebrauch unter dem Label »vorpaulinisch« firmieren, erschließt sich zumindest nicht unmittelbar. Ob der ebenfalls berücksichtigte Epheserbrief zu den authentischen Paulinen gehört, lässt S. trotz der Neigung, diese Frage zu bejahen, letztlich offen (247).
Für S. geben hinsichtlich der »nation’s future relationship with Israel« insbesondere 1Kön 8,41–43; Jes 2,2–4; Mi 4,1–4 sowie Jes 56–66 und Ps 46–48 ein gemeinsames Verständnis zu erkennen »of what Israel-nations unification ought to look like« (88). Als zentrale Elemente identifiziert er die Vision einer umfassenden Neuschöpfung, das Einstimmen der Völker in den Lobpreis Gottes und die Hoffnung auf Frieden. Alles Trennende wird bis dahin schrittweise überwunden, so dass am Ende dieses Prozesses die Völker an »Israel’s Israelite identity« (88) teilhaben. Der Gedanke einer Neuschöpfung kann unterschiedlich konzeptualisiert werden – sei es mit Hilfe räumlicher Kategorien (Extension der ersten Schöpfung [z. B. 1Kön 8,41–43]), sei es im Rückgriff auf das Urzeit-Endzeit-Schema (Jes 2,2–4; Sach 8,18–23 u. ö.). Durchweg werden Bilder gebraucht, die Gottes »original design for the world« (130) in Erinnerung rufen. Das Spezifikum des im gemeinsamen Gotteslob sich realisierenden Heilsuniversalismus erblickt S. darin, dass er wiederum israelzentrisch gedacht ist (131). Einen eigenen Akzent setze Gen 1–2. Dort werde die Schöpfung als Gottes Tempelpalast präsentiert, in den die ganze Menschheit als Gottes Ebenbild (Gen 1,26 f.) hineingestellt ist. Damit scheine bereits im Eingangsportal des biblischen Kanons die kosmische Dimension der »humanity’s unity« und ihre »right relationship with their creator« (146) auf.
Im zweiten Hauptteil versucht S. zu zeigen, dass und wie diese in den »pre-Pauline traditions« zur Anschauung gebrachte Perspektive auf unterschiedliche Weise inhaltlich ausgestaltet wird. Zwei Beispiele mögen zur Illustration genügen. ÄthHen10,16–11,2 be­schreibt detailliert den paradiesgleichen Zustand nach dem »großen Tag des Gerichts« (10,6) über Sünder und Gottlose. Es gibt Nahrung in Fülle, alle Menschen leben in Gerechtigkeit und Frieden unter der Herrschaft Gottes, alle beten ihn an und verherrlichen seinen Namen. Die durch das Gericht vollzogene Reinigung der Erde interpretiert S. im Sinne ihrer restitutio ad integrum. Indem die Endzeit zur Urzeit wird (164), gelangt die Erde an ihr vom Schöpfer bestimmtes Ziel. Weniger konkret erscheint Josephus’ Vorstellung. In seiner Version des Tempelweihegebets König Salomos (Ant 8,116 f.111–117) heißt es am Schluss, Gott möge nicht nur den in Sünde gefallenen Hebräern gnädig sein, sondern auch die Bitten all jener erhören, die sich ihm von der äußersten Grenze des Erdkreises her nahen und seine Hilfe erflehen. Zwar werde der Ge-danke einer künftigen »humanity’s restauration« nicht expliziert. Doch lasse sich insofern von einer »Israel-nations unification in its gestational form« (209) sprechen, als die Völker zum Tempel kommen, um an den Segensverheißungen Israels in der Gegenwart seines Gottes zu partizipieren.
Innerhalb des Corpus Paulinum sieht S. Gal 3,26–29; 6,11–16; Röm 15,7–13 und Eph 2,11–22 (s. u.) am deutlichsten von diesem Erwartungshorizont geprägt. Werde aus Gal 3,26–29 ersichtlich, dass die den paganstämmigen Christusgläubigen zugeschriebene Abrahamskindschaft »implies something about Paul’s understand­ing of the relationship between Israel and the nations in the era of Christ« (221), bringe 6,11–18 die im brieflichen Hauptteil entfaltete »christocentic Identity« (231) der adressierten Gemeinden »in terms of the restauration of creation as well as that of Israel and human-ity« (ebd.) abermals zur Geltung. »Neuschöpfung« schließe beides ein: die eschatologische Wiederherstellung der in Gen 1–2 präfigurierten Einheit aller Menschen und die universale Erfüllung der an Abraham ergangenen Verheißungen für Israel. Man könne daher von einer »Israelification« der Völker sprechen. Im Kontext des pa­r-änetischen Abschnitts Röm 14,1–15,13 begründe 15,7–13 die Mah­nung zur gegenseitigen Annahme von Juden- und Heidenchristen mit Verweis auf ihre Teilhabe an der »eschatological new human-ity« (247). Da sie als Glaubende bereits im Strahlungsfeld der in Christus konstituierten »neuen Menschheit« lebten, solle ihr ek­klesiales Miteinander auch von dieser Wirklichkeitsannahme be­stimmt sein. Obwohl S. die Verfasserschaft des Eph offenhält, beurteilt er 2,11–22 jedenfalls dem Inhalt nach als paulinisch. Leitend sei die christozentrische Substruktur der im Text proklamierten Einheit von Juden und Christen. Für den Autor stelle sie die endgül-tige »realization of Scripture« (261) und das Ziel der göttlichen Verheißungen an Israel dar, wie u. a. der Rekurs auf Jes 52,7 und 57,17–19 (V. 17) zeige. Damit werde ein Bogen gespannt, der von der ur­zeitlichen Schöpfung bis hin zu ihrer eschatologischen Restitution reiche. Diese auf eine »renewal of the cosmos« (260) zulaufende ethnisch entschränkte Perspektive reflektiere die Gewissheit »that God’s purposes for human history are now [sc. in Jesus Christ] being realized« and »that the end was promised to recapture the glory of the beginning« (261).
Der Eindruck, den die Studie hinterlässt, ist gespalten. Mehrfach betont S., die von ihm herangezogenen Texte seien repräsen-tativ und stünden pars pro toto für die Dominanz und die ungebrochene Vitalität des biblisch grundierten Verständnisses der »Is­rael-nations unification«, so dass man von einem »commonplace[]« (267) im frühen Judentum sprechen könne. Fraglich ist jedoch, ob es sich wirklich um einen »Allgemeinplatz« handelt. Dies umso mehr, als S. gleich darauf seine Aussage halb zurücknimmt und ihren Geltungsbereich limitiert (»at least within some groups«). Welche Gruppen näherhin gemeint sind, erfährt man allerdings nicht.
Eine methodische Hypothek stellt das erkennbar interessegeleitete Selektionsprinzip dar. Die Textauswahl erfolgt nach Kriterien, deren präjudizierender Charakter offenkundig ist. Da sie als ein vorgeschaltetes Verstehensregulativ fungiert, wäre es nötig gewesen, die materiale Basis zu erweitern, um zu prüfen, inwieweit andere Texte sich der herausgearbeiteten Traditionslinie einfügen oder ihr vielleicht sogar diametral entgegenstehen. Hier wäre vor allem an die Qumranschriften zu denken. Bis auf einige wenige Bemerkungen im Anmerkungsapparat bleiben sie aber ebenso ausgespart wie das philonische Schrifttum und nahezu alle übrigen Zeugnisse der hellenistisch-jüdischen Literatur, unter ihnen auch die thematisch einschlägige Erzählung »Joseph und Aseneth«. Mir ist zudem unerfindlich, warum z. B. das in den sogenannten Israelkapiteln Röm 9–11 zur Anschauung gebrachte endzeitliche Szenario, dessen demonstrative Rückbindung an die Schrift hätte aufmerken lassen müssen, für S. keine Überlegung wert zu sein scheint.
Den wesentlichen Ertrag der Studie sehe ich darin, dass sie in wünschenswerter Deutlichkeit den Rezeptionshorizont erhellt, in den die aus dem biblisch-jüdischen Traditionsreservoir sich speisende, freilich unterschiedlich ausgestaltete Vorstellung einer künftigen Teilhabe der Völker am Erbe Israels jeweils eingespannt ist. Darüber hinaus gelingt es S. einmal mehr zu zeigen, dass und wie der Apostel Christus und die an ihn Glaubenden in die mit Abraham beginnende Verheißungsgeschichte des Gottesvolkes einschreibt. Insofern ist die von Paulus entwickelte Perspektive auf Gottes endzeitliches Heilshandeln in der Tat beides: »typically Jewish« (213) und »Christ-based« (261).