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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1218-1221

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Sauerwein, Ruth

Titel/Untertitel:

Elischa. Eine redaktions- und religionsgeschichtliche Studie.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. X, 331 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 465. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-035129-3.

Rezensent:

Susanne Otto

Die im Sommer 2013 von der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen angenommene und von Reinhard G. Kratz betreute Dissertation von Ruth Sauerwein erhebt den Anspruch, ausgehend von einer literarkritischen und redaktionsgeschichtlichen Analyse der Elischa-Erzählungen im ersten Teil der Arbeit die »bisher umfassendste Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der Elischa-Erzählungen« zu bieten. Der zweite Teil der Arbeit ist einer religionsgeschichtlichen Untersuchung gewidmet, die nach dem Ursprung und der Wirkungsgeschichte der von den Erzählungen entworfenen »Typologie« des Gottesmannes Elischa fragt.
Eine knappe Einleitung erläutert Ziel und Methodik der Arbeit sowie die getroffenen Vorannahmen zum DtrG und gibt einen kurzen Überblick über die neuere Forschung, beginnend mit H.-Chr. Schmitts Elisa-Studie aus dem Jahr 1972. Die literarkritische Ana-lyse der Elischa-Erzählungen umfasst gut ein Drittel des Buches. Dabei untersucht S., den in früheren Arbeiten zu Elischa hergestellten Zusammenhang zwischen Gattung, Thema und Entstehungsgeschichte bewusst unberücksichtigt lassend, jede Elischa-Erzäh lung im Bereich von 1Kön 19,15 bis 2Kön 13,21 gesondert. Auf Grundlage der Ergebnisse der literarkritischen Analyse erfolgt eine redaktionsgeschichtliche Rekonstruktion des Textwachstums im Bereich der Elischa-Erzählungen. Die daran anschließende religionsgeschichtliche Untersuchung nimmt wiederum ein gutes Drittel des Buches ein. Sie fragt zum einen nach möglichen literarischen, religions- und traditionsgeschichtlichen Vorbildern für die ur­sprünglichen Wundererzählungen und die Figur des Magiers bzw. Wundertäters Elischa, die in ebendiesen gezeichnet wird, zum an­deren nach deren Wirkungsgeschichte sowie nach religionsphänomenologischen Analogien. Das folgende knappe Fazit bietet eine Zu­sammenschau des von S. rekonstruierten mehrstufigen Prozesses der Einfügung der Elischa-Erzählungen in den Kontext der Königebücher, den Versuch einer absoluten Chronologie sowie eine theologische Deutung der einzelnen entstehungsgeschichtlichen Strata.
Dem Buch ist ein Literaturverzeichnis sowie ein Sach- und Stellenregister beigegeben. Ein Anhang bietet, zusätzlich zu Text und Übersetzung der Elischa-Erzählungen mit graphischer Darstellung des Textwachstums, eine tabellarische Darstellung desselben.
S. folgt dem Trend der neueren Forschung, Prophetenbücher und Prophetenerzählungen vornehmlich als literarische Phänomene zu erfassen. Das leitende Interesse ihrer Untersuchung ist daher die Frage nach »der literarischen Funktion Elischas für die Königebücher und deren Genese ebenso wie für die literarische Wirkungsgeschichte« (3).
S.s redaktionsgeschichtliche Rekonstruktion des Textwachstums im Bereich von 1Kön 19 bis 2Kön 13 basiert auf der ad hoc getroffenen Grundannahme eines nachdeuteronomistischen Einbaus aller Elia- und Elischa-Erzählungen. Eine Auseinandersetzung mit der in diesem Punkt immer noch disparaten Forschungslage findet nicht statt. S. will darüber hinaus ohne »Vorannahmen eines redaktionsgeschichtlichen Modells zum DtrG« (8) auskommen und verwen-det den Begriff »deuteronomistisch« entsprechend eines »Minimal-konsenses«, der von einer deuteronomistischen Re­daktion ausgeht, welche die Rahmenschemata der Könige von Israel und Juda in den Königebüchern mit ihren Beurteilungen versehen hat. Dennoch trifft sie auch hier eine gewichtige Vorannahme, indem sie in-nerhalb der Rahmennotizen zwischen einem lediglich am Thema der Kult- und Reichseinheit interessierten deuteronomistischen »Grundbestand« und späteren, den Ausschließlichkeitsanspruch Jahwes betonenden Ergänzungen unterscheidet. Nach S. stellt sich die Entstehungsgeschichte der Elischa-Erzählungen wie folgt dar:
1. Am Anfang des mehrstufigen Prozesses der Einfügung der Elischa-Erzählungen in die Königebücher stand eine »Sammlung ehedem selbständiger Wunderepisoden über den Gottesmann Elischa« (224), der als institutionell unabhängiger Wundertäter/Magier mittels seiner übernatürlichen Fähigkeiten ohne das Eingreifen einer Gottheit/Jahwes Wunder wirkte. Diese umfasste die Erzählungen 2Kön 2,19–22*; 2,23–25*; 4,1–7*; 4,38–41; 4,42–44*; 6,1–7; 13,20–21. S. vermutet, dass dieser ursprüngliche Kranz von Erzählungen aus dem Nordreich Israel stammt und bereits in exilischer Zeit schriftlich vorgelegen haben muss. Darüber hinaus erwägt sie eine Erstverschriftlichung unter dem Eindruck der Zerstörung Sama-rias im Jahr 722 v. Chr., schließt aber die Möglichkeit einer genaueren Datierung der mündlichen Vorstufen aus.
2. Diese Sammlung wurde von einem Redaktor, von S. als »Elischa-Biograph« bezeichnet, im ausgehenden 6. oder im 5. Jh. v. Chr. in das DtrG, das zu diesem Zeitpunkt im Bereich von 1Kön 19–2Kön 13 nur die deuteronomistisch überarbeiteten Rahmenschemata der Könige von Israel und Juda sowie die Erzählung über die Revolution Jehus enthielt (ohne 9,1–13 und somit ohne die Figur Elischas), mittels redaktioneller Anschlüsse und Hinzufügung eigens zu diesem Zweck von ihm geschaffene Elischa-Erzählungen (1Kön 19,19–21; 2Kön 2,1–15*; 3,5–24*; 4,8–38*; 5,1–14*; 6,8–23*; 6,24–7,1–16*; 8,7–15*) eingefügt. Intention des »Elischa-Biographen« war es, eine Verbindung zwischen dem vom Königshof unabhängigen Wundertäter der ursprünglichen Elischa-Erzählungen und den »Ge­schicken des Nordreichskönig Joram zu schaffen« (224), indem er Elischa zu einem Hofpropheten nach altorientalischem Vorbild machte. Erst dadurch erhielt die zuvor zeitlich nicht verortete Elischa-Figur eine mit dem deuteronomistischen Königsrahmen korrelierte, biographische Verankerung.
Die Bezeichnung »Elischa-Biograph« ist m. E. eine unglückliche Begriffswahl, da S. zwar stets von »dem Elischa-Biographen« und einer Bearbeitungsschicht spricht, in der Tat aber einen sukzessiven, auf mehrere Hände zurückgehenden Bearbeitungsprozess für wahrscheinlicher hält. Dieser wird jedoch von ihr nicht näher analysiert, da »die genaue Unterscheidung der beteiligten Hände nicht letztgültig getroffen werden« (121) könne und die hinter allen Einfügungen zu erkennende redaktionelle Intention, aus dem Wundertäter Elischa einen Hofpropheten zu machen, identisch sei. Es stellt sich die Frage, ob hier nicht gravierende intentionale und konzeptionelle Unterschiede innerhalb der angenommenen Schicht/Abfolge von Schichten zugunsten einer einfacheren redaktionsgeschichtlichen Hypothese eingeebnet werden.
3. Die darauf folgende »theologisierende Redaktion« machte »aus dem Gottesmann an der Seite des Königs« (225) einen Propheten, dessen Wunder auf das Wirken Jahwes zurückzuführen sind. Da es dem Bearbeiter um einen strengen Jahwe-Monotheismus ging, verortet S. die theologisierende Redaktion in der fortgeschrittenen nachexilischen Zeit. Darüber hinaus identifiziert S. vier weitere, zum Teil nur punktuelle Bearbeitungen, die bis weit in die helle-nistische Zeit hineinreichen:
4. Die in der ausgehenden Perserzeit oder in der hellenistischen Epoche anzusiedelnde »Phoboumenos-Bearbeitung« von 2Kön 5 (5,17aβ–19a) lässt Naaman zum Beispiel eines Ausländers werden, der seine Bekehrung zu Jahwe mit der Beibehaltung seiner offiziellen Kultverpflichtungen in Einklang zu bringen vermag.
5. Die »moralisierende Bearbeitung« vermittelt den Lesern anhand von Beispielerzählungen moralische Werte wie Rechtschaffenheit, Gehorsam und Frömmigkeit (2Kön 2,16–18; 4,12–15a. 25–36*; 5,5b.15b–27*; 7.2.17–20; 8,1–6).
6. Die »Juda-Joschafat-Bearbeitung« von 2Kön 3 und 9 lässt ein besonderes Interesse am Südreichskönig Joschafat erkennen.
7. Die »Steigerungsbearbeitung« zeichnet sich durch ein besonderes Interesse an Zahlen und Übersteigerungen aus (2Kön 3,4. 18f.24b–27; 6,10b.14; 13,18 f.).
In Hinblick auf den ersten Teil der Arbeit stellt sich die Frage, inwieweit eine redaktionsgeschichtliche Analyse, die die in der Forschung nach wie vor umstrittene nachdeuteronomistische Einfügung aller Elia- und Elischa-Erzählungen unhinterfragt zur Vorannahme macht, einen weiterführenden Beitrag zur diachronen Erforschung der Elischa-Traditionen zu leisten vermag. Positiv hervorzuheben ist die dezidierte Darstellung des Wandels der Elischa-Figur (Magier, Hofprophet, Prophet Jahwes) in den jeweiligen literarischen Schichten, wobei die Unschärfe in der Analyse der dem »Elischa-Biographen« zugeordneten »Schicht« bereits erwähnt wurde. Die Datierungsversuche S.s bleiben vage, zumal kaum Überlegungen hinsichtlich einer gesellschaftlichen Verortung der Überlieferungsträger oder zu deren Schreibanlass angestellt werden.
Die kursorische Durchsicht von »Literaturen aus Mesopotamien und dem Mittelmeerraum vom Anfang des 2. Jahrtausends v. Chr. bis in die Spätantike und das arabisch-islamische Mittelalter« (227) im Rahmen der religionsgeschicht-lichen Untersuchung ergibt Folgendes: In den bisher bekannten Texten der Literaturen des Alten Orients (Texte aus Mari und Ugarit sowie ba­- bylonische, hethitische, ägyptische, neuassyrische und persische Texte) und dem syrisch-palästinischen Kulturraum (Bileam-Inschrift, Inschrift des Zakkur von Hamath, Lachisch-Ostraka, Texte aus Qumran) finden sich keine Vorbilder für Wundertäter- bzw. Magier-Erzählungen, die Ähnlichkeiten zur Typologie Elischas im Grundbestand der biblischen Elischa-Erzählungen aufweisen.
Mit Beginn der griechischen Antike (repräsentiert durch die Untersuchung einer [!] Fabel Äsops sowie Überlegungen zum Orakel von Delphi) sind nach S. deutlichere Analogien zu den Erzählungen über Elischa zu finden, die sich im Verlauf der Spätantike häufen. Hier findet sich innerhalb der von S. herangezogenen Vergleichstexte (Theios-Aner-Literatur, Antiquitates Judaicae, Erzählungen über die Magier der Sassanidenzeit und frührabbinische Wundertäter) erstmals die Gattung »Wundertätererzählung«. Die analysierten Wundertätererzählungen lassen, wie die frührabbinischen Erzählungen über Choni den Kreiszieher und Chanina ben Dosa, motivgeschichtliche Abhängigkeiten von bzw. eine Kenntnis der Elischa-Überlieferung erkennen oder weisen, wie die spätantiken Theios-Aner-Erzählungen, eine große Zahl an Gemeinsamkeiten auf, ohne dass eine direkte Abhängigkeit nachzuweisen wäre. S. schließt aus ihren Beobachtungen, dass es »um die Zeitenwende ein Motiv-Reservoir für Wundertätererzählungen« (227) gegeben haben muss, das sich auch aus den Elischa- und Eliaerzählungen speiste.
Es schließt sich eine Untersuchung der neutestamentlichen Wirkungsgeschichte der Elischa-Erzählungen an. S. zeigt auf, dass die »Darstellung der Wunder Jesu in den neutestamentlichen Evangelien deutliche motivgeschichtliche wie strukturelle Bezüge zu den Elischa-Wundererzählungen aufweist« (206). Diese fallen in Bezug auf die Wundererzählungen weitaus deutlicher aus als die Bezüge zu den Elia-Erzählungen. Jesus überbietet in seiner Rolle als Wundertäter Elischa als den Wundertäter des Alten Testaments par excellence.
Abschließend untersucht S. »religionsphänomenologische Analogien« aus dem Bereich des islamischen Sufismus.
Der Ertrag der religionsgeschichtlichen Untersuchung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die biblischen Wundertätererzählungen über Elischa sind auf der jetzigen Textgrundlage die ersten Wundertätererzählungen aus dem Bereich des Alten Orients und des Mittelmeerraums. Dies ist darauf zurückzuführen, dass es sich bei den ursprünglichen Elischa-Erzählungen um eine literarische Kleingattung handelt, die gewöhnlich nur mündlich überliefert wurde und, so vermutet S., ihre Verschriftlichung nur der spezifischen historischen Situation des Nordreichs Israel um 722 v. Chr. verdankt. Die Aufnahme in die Königebücher ermöglichte die besondere motivgeschichtliche Wirkung der Elischa-Erzählungen.
Die religionsgeschichtliche Untersuchung der prophetischen Texte aus der Umwelt des Alten Testaments erbringt aufgrund der traditions- und gattungsgeschichtlichen Differenzen zu den Elischa-Wundererzählungen kaum Unerwartetes. S. kann nach ihrer Durchsicht lediglich konstatieren, dass sich »nur wenige Anknüpfungspunkte zu der Typologie Elischas als Wundertäter erkennen ließen« (175).
Weiterführend ist sicherlich die Beobachtung eines deutlich verstärkten Vorkommens von Wundertätererzählungen, die eindeutige Gemeinsamkeiten mit den Elischa-Erzählungen zeigen, um die Zeitenwende. Eine nähere Beleuchtung des lediglich an­deutungsweise beschriebenen möglichen Zusammenhanges zwischen dem Aufkommen bzw. der Verschriftlichung der der Volksreligion zuzurechnenden Wundertätererzählungen und einer Krise der offiziellen Religion durch sich verändernde politische Machtverhältnisse (199.219 f.) wäre durchaus wünschenswert ge­wesen.