Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1135-1136

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Holt, Stine

Titel/Untertitel:

Meaning and Melancholy in the Thought of Emmanuel Levinas.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 192 S. = Research in Contemporary Religion, 18. Geb. EUR 64,99. ISBN 978-3-525-60452-6.

Rezensent:

Claudia Welz

Stine Holts Buch ist eine erweiterte Fassung ihrer an der Universität Oslo von Trygve E. Wyller betreuten Doktordissertation. Dass H. auch von Aufenthalten in Paris und Löwen profitiert hat, zeigt sich an ihrer gewissenhaften Diskussion der Forschungsbeiträge ihrer dortigen Gesprächspartner. Ihr Buch ist folgendermaßen aufgebaut: Nach »Acknowledgements« und Abkürzungsliste der zitierten Werke folgen zwei von Einführung und Konklusion gerahmte Hauptteile; am Ende stehen die Bibliographie und ein kurzer Namen- und Sachindex.
Laut »Introduction« (11–18) handelt H.s Arbeit von Levinas’ Ethik – nicht im Sinne eines Denksystems, sondern als Frage nach dem Sinn der ethischen Situation, der Begegnung mit dem Anderen. Weshalb wird Letztere von Levinas mit pathologisierenden Begriffen wie »Traumatismus«, »Besessenheit« und »Verrücktheit der Seele« beschrieben, und wie ist die Spannung zwischen »mean­ing and melancholy of ethics« (11) zu verstehen? H. will zudem die Bedeutung der Religion und Transzendenz aufzeigen, die Levinas mit der Phänomenologie in Verbindung bringt, um mit der Phänomenologie über die Phänomenologie hinauszugehen.
Der erste Hauptteil des Buches (»The Light and Darkness of Phenomenological Meaning«) untersucht vor allem Levinas’ Frühwerk, und zwar in folgenden fünf Schritten: 1. Zunächst geht es um den von Levinas hinterfragten Schlüsselbegriff der Intentionalität, sei er wie in Husserls transzendentaler Phänomenologie mit Fragen der Sinngebung oder wie in Heideggers ontologischer Phänomenologie mit dem Sinn des Seins verbunden. »La signification et le sens« und Totalité et Infini (= TI) zufolge zeigt sich die Bedeutung des Ethischen in der »Epiphanie« des Angesichts des Anderen, das zugleich als Phänomen und jenseits eines hermeneutischen Horizonts oder Kontexts erscheint (21–32). 2. Im Zuge seiner Kritik der Ontologie Heideggers setzt Levinas dem »es gibt« il y a entgegen: das anonyme, dunkle, von sich aus sinnlose Faktum des Seins. Die Unmöglichkeit des Vor-sich-Fliehens, das An-sich-Gekettetsein, ist De l’évasion zufolge von Scham begleitet (33–41). 3. Sofern Intentionalität durch Luminosität bedingt ist, in deren Licht die Welt als etwas erscheint, birgt sie für Levinas die Gefahr der nivellierenden Angleichung und Aneignung des seine Exteriorität einbüßenden (re-)präsentierten Anderen (42–62). 4. Die Überschrift »Esthetics between darkness and light« (63–78) sucht Levinas’ Skepsis gegenüber ästhetischem Kunstgenuss einzufangen, welcher Horror in Schönheit sublimiert und keine Scham kennt, sondern der Welt auch dort/dann Sinn verleiht, wo/wenn sie sinnlos ist. Nichtsdestotrotz kann das Ethische nicht unabhängig von Ästhetik und Ontologie »gesagt« oder ausgedrückt werden, so H.s Pointe. 5. Welche Sprache aber kann unaussprechlicher, unthematisierbarer Transzendenz gerecht werden? Diese Frage führt Levinas in Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (= AE) von der Alterität des Anderen zu deren Wirkung auf das von ihr affizierte Subjekt, auf die »Spur« der (weder auf Sein oder Nichtsein reduzierbaren) Transzendenz in der Immanenz und die Differenz zwischen le dit (der Aussage in der Form S = P) und le dire (dem nichtpropositionalen Sagen im Sinne des körperlichen Zugewandt- und dem Anderen Ausgesetztseins) (79–92).
Der zweite Hauptteil des Buches (»Transcendence and Sensibil-ity«) ist Levinas’ Spätwerk gewidmet und besteht aus folgenden drei Kapiteln: 1. »Sensibility and the anarchy of the self« (95–110) charakterisiert die Rolle des Empfindens, das in TI im Zusammenhang mit dem sinnlichen Genießen und der Wahrnehmung des Angesichts des Anderen als Sinn-Verleihung von außen vorkommt, während es in AE ethisiert und als proximité oder nicht-intentionale Nähe des Anderen mit einer unabweisbaren Verantwortung assoziiert wird. Das Selbst ist an-archisch, un-gegründet, hat keinen Rückzugsort in sich selbst, sondern ist »aufgebrochen«, je schon für-den-Anderen und in dieser Funktion unersetzbar. 2. »Responsibility and the traumatized self« (111–139) befasst sich mit Levinas’ provokativen Aussagen über das unendliche Maß der Verantwortung und deren »obsessive«, nicht wählbare Gestalt, wo­durch die Würde des Subjekts in Frage gestellt wird. H. analysiert in diesem besonders geglückten Kapitel den in AE zentralen Begriff der substitution (Stellvertretung), welcher den Exzess einer (der Freiheit vorausgehenden!) Verantwortlichkeit für das ganze Universum bezeichnet, bis hin zum »Angeklagt-, Verfolgt- und Geiselsein«, ohne das Geringste verbrochen zu haben. In Éthique et infini wird zugestanden, dass die für den Anderen bzw. Dritten eingeforderte Gerechtigkeit auch für einen selbst gelten sollte. In einem aufschlussreichen Vergleich psychoanalytischer und phänomenologischer Zugänge zum Thema »Trauma« stellt H. in Diskussion mit Rudolf Bernet, Simon Critchley, Rudi Visker und Catherine Chalier strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Levinas’ Beschreibungen des ethischen, heilsamen Traumas und des pathologischen, destruktiven Traumas heraus, z. B. im Blick auf dessen Temporalität (vgl. »Diachronie« und Nachträglichkeit), sowie Unterschiede im Blick auf dessen Emotionalität (Scham versus Panik) und Effekt auf die traumatisierte Person (Befreiung zu selbständigem Engagement versus Erniedrigung und Versklavung des Opfers). H. identifiziert sodann ein melancholisches Moment in Levinas’ ethischem Selbst. Melancholie umfasst hier nicht nur Depression, Hoffnungslosigkeit und Selbstbeschuldigung, sondern auch einen kulturellen Sinnzusammenbruch, den Verlust von Idealen und den Schmerz der Entwurzelung. 3. Mit Verweis auf die von Levinas betonte Heiligkeit des in keiner Totalität aufgehenden Angesichts des Anderen sowie auf Gottes »Illeität« und die menschliche Annäherung an ihn als à-Dieu, in dem Gott von sich weg auf die Verantwortung des Menschen für seinen Nächsten weist, eruiert H. »The religious dimension of sensible transcendence« (140–176): Gott offenbart sich nur indirekt – in der Aufrichtigkeit des seine Verantwortung bezeugenden, sich für den Anderen zur Verfügung stellenden, Heteronomie und Autonomie versöhnenden Subjekts.
In ihrer »Conclusion« (177–182) resümiert H., dass die Sinnlosigkeit des Seins nie gänzlich überwunden werden kann, weshalb es auf die Frage nach der Bedeutung des Ethischen keine einfache Antwort gibt und Levinas’ Werk von einer grundlegenden Ambiguität zwischen Licht und Dunkelheit, Melancholie und Hoffnung geprägt ist – als Ausdruck tiefer Demut. Transzendenz trete sowohl »jenseits des Seins« als auch in der Infragestellung des Seins von innen heraus auf, und die Sinnkrise sei unerlässlich für die Erneuerung ethisch-religiösen Sinns.
H.s Dissertation besticht durch gründliche Analysen des französischen Texts, ausgewogene Argumentation und fruchtbares Verknüpfen der Fächer Philosophie, Theologie und Psychologie. H. begibt sich ins Gespräch mit u. a. Kierkegaard, Derrida, Ricœur, Freud, Tellenbach, Lacan und Kristeva, um Levinas’ Profil noch schärfer herauszustellen und Alternativen zu bedenken. Wie Nu­merusverwechslungen (z. B. 143: »there seems to be no major differences«) und andere kleinere Fehler nahelegen, wären English language corrections wünschenswert gewesen. Einzelne Formulierungen wirken unpräzise (z. B. 11: »ethics – in the sense of otherness – as first philosophy«). Diese beiden untergeordneten Kritikpunkte können H.s Verdienst jedoch nicht schmälern. Ihre solide und zugleich originelle Studie sei hiermit wärmstens empfohlen.