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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1120-1121

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Döbertin, Winfried

Titel/Untertitel:

Adolf von Harnack. Liberaler Theologe – Wegbereiter der Moderne – Lehrer Dietrich Bonhoeffers. Neu hrsg. u. m. e. Vorwort versehen v. K. Martin.

Verlag:

Wiesbaden u. a.: Fenestra-Verlag 2013. 258 S. m. Abb. Kart. EUR 18,90. ISBN 978-3-944631-05-9.

Rezensent:

Christian Nottmeier

Seit Ende der 1980er Jahre ist Adolf von Harnack in kirchenhistorischer, systematisch-theologischer und bildungshistorischer Perspektive neu erforscht und entdeckt worden. Sogar im Kontext der Reformdiskussion der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat er mit Blick auf das wichtige Thema »Protestantismus und Kultur« Beachtung gefunden, so dass der da­malige Ratsvorsitzende Wolfgang Huber Harnack bescheinigte, gerade in diesem Zusammenhang einen »urreformatorischen Im­puls« aufgenommen zu haben. Offensichtlich erfreuen sich zu­mindest die Problemkonstellationen, die Harnack theologisch wie kulturpolitisch zu bearbeiten suchte, neuer Aktualität.
Winfried Döbertins Buch stammt aus dem Jahr 1985, also aus der Zeit vor dieser zaghaften »Harnack-Renaissance«. D., Jahrgang 1932, hat in Hamburg zunächst als Hauptschullehrer, dann an verschiedenen Berufsschulen gewirkt, seit 1968 war er Professor für Didaktik der Politik und Geschichte an der Universität Hamburg. Von 1966 bis 1974 war er zudem Mitglied der SPD-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft.
Ähnlich wie bei der Wiederaufnahme liberalprotestantischer Traditionen in der Geschichte der Praktischen Theologie seit Mitte der 1960er Jahre ist D.s Interesse an Harnack im Zusammenhang bildungspolitischer wie religionspädagogischer Fragestellungen aufgebrochen. Dabei spielte offensichtlich eine wesentliche Rolle, dass die theologischen Konzeptionen der unmittelbaren Nachkriegszeit sich gerade in den elementaren pädagogischen und kulturellen Vermittlungsbemühungen, denen D. in seiner beruflichen Tätigkeit verpflichtet war, als unzureichend erwiesen. Dies zeigen D.s Ausführungen über »Die Bedeutung der Theologie Harnacks für unsere Zeit«, »Harnacks Anregungen zur Pädagogik« (175–194) sowie seine resümierenden Überlegungen (195–202). Wissenschaftliche Sekundärliteratur wird, mit Ausnahme von Albert Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, nicht herangezogen. Insgesamt zeigt D. Interesse an Fragen der Vermittlung christlichen Glaubens in die Gegenwartskultur hinein, wobei die Auseinandersetzung mit Karl Barths Theologie von großer Bedeutung ist (146 ff.).
D.s eigentliches Interesse gilt pädagogisch-didaktischen Fragen. Hierunter behandelt er Harnacks Überlegungen zum Ge­schichts- wie zum Religionsunterricht, zum Berufsschulwesen sowie zur Persönlichkeit des Lehrers. Aus Harnacks demokratischem und friedenspolitischem Engagement zieht er Folgerungen für die Demokratie- und Friedenserziehung im demokratischen Staat des Grundgesetzes. Kulturkritisch hält er fest, dass »eine der Hauptursachen unserer Schwierigkeit darin besteht, daß wir der jüngeren Generation keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geben können« (188). Hier lehre die Geschichte im Allgemeinen wie die Geschichte des Christentums im Besonderen, »daß der Urgrund allen Seins Liebe, Gott ist, der den Menschen […] begleitet und ihn am Ende seiner Existenz in eine unvorstellbare Ewigkeit aufnimmt, […]« (188 f.). Harnacks Betonung der Bedeutung der Persönlichkeit für die Geschichte und geschichtliches Nachempfinden findet ihren Widerhall in D.s Bemerkung, solche Erfahrungen müssten in den Schulen durch die Beschäftigung mit der biblischen Überlieferung und »Männern wie Sokrates, Franziskus, Luther, den Männern und Frauen des 20. Juli 1944 und anderen« (189) erneuert werden, denn »Glaube und ethisches Verhalten können sich an Personen als Vorbildern entzünden« (ebd.). In den Debatten der frühen 1980er Jahre um Nachrüstung, Demokratie und europäische Integration bezieht D. dabei klar Stellung: Die Demokratie der Bundesrepublik sei mit Blick auf die deutsche Geschichte »der freieste und seine Bürger gut, vielleicht zu gut versorgende Staat« und daher auch nach außen »verteidigungswürdig« (192). Auch sei »berechtigtes Nationalgefühl […] kein Gegensatz zur Bereitschaft, in einer überstaatlichen Einheit mitzuwirken« (ebd.).
D.s wertschätzende Würdigung Harnacks liest man mit Anteilnahme. Spürbar ist allerdings, wie sehr auch dieses Buch seiner Zeit und seinen Entstehungsbedingungen verhaftet ist. Insofern fragt man sich nach dem Grund der Neuauflage. Dieser liegt offensichtlich darin, ihm noch einmal in einem ganz anderen Zusammenhang zur Wirkung zu verhelfen. Der Untertitel der Neuausgabe lautet »Liberaler Theologe, Wegbereiter der Moderne, Lehrer Dietrich Bonhoeffers«, während es in der Erstausgabe noch »Theologe, Pädagoge, Wissenschaftspolitiker« hieß.
Eine Beschäftigung mit Dietrich Bonhoeffer findet im Text D.s nicht statt, wohl aber im Vorwort zur Neuausgabe (11–19) wie im ausführlichen Nachwort unter dem Titel »Bonhoeffers liberales Erbe« (209–252) von Karl Martin. Martin arbeitet zu Recht die Bedeutung von Harnacks Theologie für die Entwicklung Bonhoeffers bis hin zu seinen letzten Aufzeichungen aus der Haft heraus. Schmerzlicher als bei D. vermisst man aber eine Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Forschungslage. Das gilt für Bonhoeffer, besonders aber für Harnack. Lediglich Claus-Dieter Osthöveners Neuausgabe der Wesensschrift wird kurz erwähnt, aber nicht wirklich rezipiert. Überhaupt nicht erwähnt werden die bahnbrechenden Arbeiten Kurt Nowaks, der die Harnack-Forschung in vielfacher Weise befruchtet hat. Warum nicht? Der Verdacht liegt nahe, dass die Neuausgabe weniger wissenschaftlichen als kirchenpolitischen Interessen dienen soll, wie sie durch den Dietrich-Bonhoeffer-Verein, dessen Vorsitzender Martin bis zu seinem Tod im September 2014 gewesen ist, vertreten werden. Bonhoeffer wie Harnack seien an den »Realitäten der faktisch eixistierenden ›Kir che‹ gescheitert« (251, vgl. dort auch Anm. 156). Zielpunkt dieser Kritik ist letztlich die Rechtsgestalt der verfassten Kirchen in Deutschland, die an einer »theologisch klingenden Scheinlegiti-mität und an juristischen Privilegienvorteilen, die der Begriff von Kirche als einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ihnen verschafft, festhalten wollen« (ebd.).
Natürlich kann man das diskutieren. Allerdings fiele dann ein anderes Licht auch auf Harnack. Denn dieser hat – was Martin verschweigt – maßgeblich an den kritisierten religionsverfassungsrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung, die ins Grundgesetz übernommen worden sind, mitgewirkt. Ihm ging es dabei weniger um Privilegiensicherung – ein Begriff, der aus rechtlicher Sicht kaum haltbar ist, da der Körperschaftsstatus grundsätzlich allen Religionsgemeinschaften offen steht –, sondern um die Absicherung kirchlicher Unabhängigkeit wie innerkirchlicher Pluralität, gerade gegenüber den Vertretern diverser Freiwilligkeits- oder Bekenntniskirchentümer. Das deutsche Religionsverfassungsrecht eröffnet den Religionsgemeinschaften im Namen der Freiheit erhebliche Gestaltungsräume, die sie im Sinne von Pluralismus, Demokratie und Wertvermittlung noch stärker nutzen könnten. Hier lohnte es sich, in der Diskussion an Harnack anzuknüpfen.