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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1113–1115

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Mendes-Flohr, Paul, and Anya Mali [Eds.]

Titel/Untertitel:

Gustav Landauer: Anarchist and Jew. In Collaboration with H. Delf von Wolzogen.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter Oldenbourg 2014. VIII, 242 S. Geb. EUR 89,95. ISBN 978-3-11-037395-0.

Rezensent:

Claudia Welz

Der aus einer Jerusalemer Tagung hervorgegangene Band erhellt Landauers doppelte Identität als Jude und Anarchist. Anarchismus war für ihn Kultursozialismus, der die Gesellschaft mit Hilfe einer Literatur, Musik und Theater umfassenden Bildung moralisch und spirituell erneuern sollte. Landauer ging es um eine gewaltlose Revolution, aus der eine Religion der Liebe und des Lebens hervorgehen sollte, welche die Menschen durch konkrete Taten beseligt und erlöst. Der 1870 geborene Pazifist starb 1919 allzu früh in München aufgrund seiner Beteiligung an der Errichtung einer demokratischen Räterepublik im Zuge der Bayrischen Revolution, die von der Regierung brutal niedergeworfen wurde.
Der sorgfältig redigierte Band präsentiert den aktuellen Forschungsstand zu Landauers Lebenswerk und stellt dieses in einen größeren geistesgeschichtlichen Zusammenhang. Nach einer Ab­kürzungsliste über die Werke Landauers und einer kundigen Einführung durch den Hauptherausgeber (1–13) folgen 13 hochkarätige wissenschaftliche Beiträge prominenter Landauer-Forscher, Erinnerungen der jüngsten Tochter Landauers, Namen- und Sachregister sowie Verfasserliste. Thematisch lässt sich der Band wie folgt einteilen: Die ersten vier Kapitel befassen sich mit Landauer in seinem kulturellen Umfeld, die nächsten vier mit seinem literarischen Werk, und die letzten sechs mit seiner ethisch-religiösen Verwurzelung und Entwicklung als Jude und Mensch.
I. Unter dem Titel »Messianic Radicals: Gustav Landauer and Other German-Jewish Revolutionaries« (14–44) situiert Paul Mendes-Flohr Landauer im zeitgenössischen politischen Diskurs deutsch-jüdischer Revolutionäre wie z. B. Erich Mühsam, Ernst Toller, Kurt Eisner und Ernst Bloch, der sich kritisch mit Hermann Cohens Begriff der Hoffnung und der messianischen Zukunft auseinandersetzte. Martin Buber sah seinen Freund Landauer als Blutzeugen einer in der Geschichte zu vollendenden Welt, während Franz Rosenzweigs ambivalente Haltung zum (auch von Gershom Scholem vertretenen) Zionismus und seine Auffassung der Juden als metahistorischer Gemeinschaft ein Gegenbild zum politischen Aktivismus dieser Tage darstellt. – In seinem Beitrag »›Poetic Anarchism‹ versus ›Party Anarchism‹« (45–63) vergleicht Ulrich Linse zwei Formen des Anarchismus im Wilhelminischen Deutschland: die oft gewalttätige sozialistische »Propaganda der Tat« einerseits und Landauers friedvoll-poetischer, anti-materialistischer, u. a. von Leo Tolstoi beeinflusster »Edel-Anarchismus« andererseits, der sich in keine Partei inkorporieren ließ, das marxistische Konzept des Klassenkampfs verwarf und stattdessen die Verantwortung des Individuums und die Macht des Wortes betonte. – Michael Löwy beschreibt Landauer und Buber als »Romantic Prophets of Utopia« (64–81), die eine bislang noch nirgendwo existierende gerechte soziale Ordnung befürworten und mit Poesie, Mythos und Reli-gion gegen die kalt kalkulierende Fortschrittsgläubigkeit eines utilitaristischen, kapitalistischen und positivistischen Zeitalters protestieren. Beide hielten Vorträge im neo-romantischen Schriftsteller- und Künstler-Kreis der von Heinrich und Julius Hart ge­gründeten »Neuen Gemeinschaft«. – Martin Treml skizziert den Einfluss Landauers auf Scholem (82–91), der sich sein Leben lang mit Landauer verbunden fühlte und bei ihm eine Religion der Menschlichkeit fand, die ihm ermöglichte, seine jüdische Identität in einem assimilierten Milieu festzuhalten.
II. Was Landauers literarisches Werk angeht, so charakterisiert Anthony David dessen Briefe aus der französischen Revolution (1918) als pädagogisch-therapeutisches Theaterstück, das mit Gabriel Riqueti, dem Herzog von Mirabeau, als Helden die Kombination von Seelenadel, Freiheitsliebe und politischem Realismus als Gebot der Gegenwart anpreist; auch die Tragödien von Aischylos und Shakespeare sollten im Nachkriegsdeutschland der moralischen Katharsis dienen (92–106). – Gertrude Cepl-Kaufmann befasst sich mit literarischen Trends zu Landauers Zeit (107–120). Sie beleuchtet insbesondere seine Affinität zum »Friedrichshagener Kreis« um Bruno Wille und Wilhelm Bölsche in Berlin, zu Herwarth Waldens Wortkunsttheorie sowie zu Richard Dehmels und Alfred Momberts Poesie. In seiner Vorlesung »Durch Absonderung zur Gemeinschaft« wird dem pantheistischen Pathos und dem Kult der Gott-Künstler in der »Neuen Gemeinschaft« das Programm der »Innenbefreiung« entgegengesetzt. – Philippe Despoix untersucht Lan­dauers Novelle Arnold Himmelheber (121–131), die nicht nur als Experiment mit verschiedenen Genres (dramatischer Dialog, märchenhafte Erzählung, philosophische Reflexion) bemerkenswert ist, sondern auch durch ihre skandalöse Thematik: Bruch sämtlicher sozialer Tabus von Mord bis Inzest. – Unter der vielsagenden Überschrift »Dying to Communicate« widmet Corinna Kaiser sich Landauers Novelle Geschwister (132–154). Dabei spielt sie auf den gemeinsamen Selbstmord der beiden Hauptpersonen an, die verzweifelt mit Hilfe von Briefen, Zitaten großer Dichter, der Phonetik gesprochener Worte und zuletzt ganz ohne Worte, allein mit Mimik und Gestik, das Unsagbare zu kommunizieren versuchen. Mit Verweis auf Landauers Briefe und intertextuelle Schreibstrategie macht Kaiser eine symbolische Lesart der Novelle plausibel, dergemäß diese letztlich vom utopischen Ideal der asexuellen Ge­schwisterlichkeit aller Menschen handelt.
III. Hanna Delf von Wolzogen verdeutlicht den enormen Einfluss Spinozas (vor allem seiner Ethik) auf Landauers Shakespeare-Studien, auf Skeptik und Mystik, Revolution und Aufruf zum Sozialismus, was sich u. a. in der Auffassung zeigt, dass Freiheit an die Erkenntnis der Notwendigkeit der eigenen Natur gebunden ist und der Mensch sich durch seine Passionen selbst gefangen nehmen kann (155–171). – Yossef Schwartz analysiert das Verhältnis zwischen Landauer und Scholem: Beide lehnten die deutsche Kriegspolitik ab und wandten sich Meister Eckhart zu, waren jedoch uneinig in punkto (Anti-)Nationalismus (172–190). – Wolf von Wolzogen präsentiert die Arbeit von Ina Britschgi-Schimmer, Mitherausgeberin der Briefe Landauers (u. a. an Constantin Brunner, Hugo von Hofmannsthal und Margarete Susman), die vom Nachlassverwalter Buber leider nicht gebührend anerkannt wurde (191–204). – Chaim Seeligmann beschreibt die Entwicklung des jüdischen Selbst-Verständnisses Landauers als langsame Annäherung an Chassidismus und Messianismus, wobei sein liberaler huma-nistischer Sozialismus die Kibbutzbewegung beeinflusste (205–212). – Ernst Simon zeigt auf, wie Landauer Fritz Mauthners Sprachkritik so weiterentwickelt, dass sich mystische Gottinnigkeit und Skepsis gegenüber naivem Realismus vereinen sowie Instinkt und Geist versöhnen können. Landauer wollte das Heilige durch gerechtes Handeln mitten ins Leben hineinholen (213–232). – Brigitte Hausberger, Tochter Landauers und Hedwig Lachmanns, verlor ihre Mutter 1918 und kurz darauf ihren Vater. Sie erinnert sich an eine strenge, aber freireligiöse Erziehung in einer jüdischen Nachbarschaft, in der ihre Familie als einzige Weihnachten und Ostern feierte, jedoch ohne dass während des Krieges, der Zeit des Leidens und Sterbens, zuhause Geschenke ausgetauscht wurden (233–237).
Dieser reichhaltige, vielfältige, informative Band vermittelt einen lebendigen Eindruck von Landauers Leben, Denken und Persönlichkeit. Er wird dazu beitragen, Landauers Werk auch der anglophonen Welt zu erschließen, und sei hiermit sowohl Forschern wie auch einer breiteren Öffentlichkeit ans Herz gelegt.