Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1082–1084

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gera, Deborah Levine

Titel/Untertitel:

Judith.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. XII, 571 S. = Commentaries on Early Jewish Literature. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-032304-7.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Schmitz, Barbara, u. Helmut Engel: Judit. Übersetzt u. ausgelegt. Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2014. 429 S. = Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. EUR 75,00. ISBN 978-3-451-26820-5.


Das Buch Judith, von den Bibelwissenschaften bislang nur wenig beachtet, erfreut sich zurzeit wieder eines wachsenden Interesses. Das belegt unter anderem das zeitgleiche Erscheinen zweier neuer, fundierter Kommentare. Natürlich war das Schattendasein des Buches Judith auch nur ein scheinbares und eher das Ergebnis einer optischen Täuschung. Denn seit jeher hat die Geschichte von der schönen Frau, die den Gewaltherrscher besiegt, zu faszinieren vermocht. Mit ihrer reichen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte ist sie in Theologie, Literatur und Kunst stets präsent gewesen.
Dass diese Erzählung nun auch in der Kommentarliteratur der jüngsten Gegenwart ankommt, verdankt sie den beiden vorliegenden Interpretationen, die das Buch Judith aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten: Deborah Levine Gera (Jerusalem) kommentiert den Text als Altphilologin in der Reihe der »Commentaries on Early Jewish Literature«; Barbara Schmitz (Würzburg) und Helmut Engel (Rom) steuern ihren Band zu »Herders Theologischem Kommentar zum Alten Testament« und damit zur Auslegung der sogenannten »Deuterokanonischen Schriften« bei. Aus diesen Perspektiven resultieren jeweils eigene Akzentsetzungen – wenngleich beide Kommentare auf der Höhe einer inzwischen umfangreichen Judith-Forschung im Wesentlichen auch zu vergleichbaren Ergebnissen gelangen.
Konsens wie Akzentuierung machen sich zunächst in den Einleitungsfragen bemerkbar. Ausgangspunkt ist in beiden Fällen die Septuaginta-Fassung des Buches Judith (Hanhart); der Vulgata-Text des Hieronymus (um 398), der etwa um ein Fünftel kürzer ist, aber auch Erweiterungen enthält, wird mit seinen wichtigsten Eigenheiten lediglich in der Kommentierung verzeichnet. Die alten Übersetzungen sind bereits Teil der Rezeptionsgeschichte; das gilt vor allem von den späten hebräischen Fassungen, die Gera mit besonderer Sorgfalt beschreibt. Hier wären auch noch die jiddischen Versionen zu nennen, die nachweislich auf die (an dieser Stelle von Hieronymus abhängige) Lutherbibel zurückgehen.
Als spannend erweist sich die Diskussion um die Ursprache, die lange Zeit unter dem Vorzeichen einer von Hieronymus behaupteten »chaldäischen« Vorlage stand. Der frühere Konsens, Judith sei aus dem Hebräischen übersetzt, ist heute der einhelligen Auffassung eines griechischen Ursprungs gewichen. Schmitz/Engel lis­ten alle sprachlichen Elemente, namentlich aber die immer wieder diskutierten Hebraismen auf und votieren klar für Griechisch als Originalsprache; Gera, die auch den Kontext der griechisch-hellenistischen Literatur umfangreich in ihre Kommentierung einbezieht, liefert eine detaillierte Problembeschreibung und diskutiert ein ganzes Spektrum von Optionen, gelangt aber letztlich ebenso zur Annahme eines griechischen »Urtextes«.
Damit verbindet sich bei Gera auch die Frage nach dem Autor, den sie um 100 v. Chr. im jüdischen Mutterland am Werk sieht – in einer Zeit also, in der die Hellenisierung der südlichen Levante schon weit vorangeschritten ist; aus dieser Situation resultieren die zahlreichen Hebraismen ebenso wie die souveräne Bewegung auf dem Feld griechischer Sprache und Literatur, die Nachahmung des LXX-Stils und die Schilderung der Ereignisse aus einer gleichsam »internen« Sicht. Ähnlich datieren Schmitz/Engel die Erzählung auf das letzte Viertel des 2. Jh.s, lassen jedoch die Lokalisierung offen.
Die Gliederung des Textes erfolgt bei Schmitz/Engel nach einer grundsätzlichen Zweiteilung (1–7/8–16), die einer weiteren, größere Sinneinheiten und kleinere Segmente voneinander abgrenzenden Strukturierung unterzogen wird; Gera konstruiert eine narrative Linie, die sich durchgängig in 15 Blöcken entfaltet. Großen Wert legen beide Kommentare darauf, den fiktiven Charakter der geschichtlichen Ereignisse, mit denen das Buch ein Feuerwerk in­tertextueller Bezüge entzündet, nachzuweisen und zu diskutieren. Bei Schmitz/Engel geschieht das vor allem mit Bezug auf die alt-tes­tamentlich-biblischen Referenztexte, denen sich auch drei Karten mit den vorgestellten, idealisierten Landschaften und Heeresbewegungen hinzugesellen; Gera erweitert das Spektrum um einen ausführlichen Survey durch die griechisch-hellenistische Literaturgeschichte, die sich hier als nicht weniger relevant erweist: »In sum, Judith would not be out of place in the pages of Herodotus, Ctesias, and Xenophon, for strong-minded, independent women are often found in these Greek works […]« (72). Offen bleibt dabei lediglich die Frage, wie sich ein solcher breiter »Greek influence« dem Autor des Buches vermittelt haben könnte.
Die theologische Intention des Buches wird vor allem von Schmitz/Engel reflektiert. Judith zielt als kleine »romanhafte theologische Lehrerzählung« darauf ab, drei Fragen zu beantworten: Wer und wie ist Gott? Was bedeutet gottesfürchtig? Was ist das für ein Volk? Dabei kommt vor allem den Reden und Gebeten eine tragende Rolle zu. Gera wiederum fragt nach den Spezifika der Judith-Figur, die sie zwischen Feminismus und Theologie zu bestimmen versucht, und betont die Komplexität dieses Charakters, der sich einfachen Formeln immer wieder entzieht: »Judith has much to do and say in our book, but neither her voice nor that of her author is a female voice.« (109) Schmitz/Engel verhandeln solche Überlegungen unter dem Stichwort einer »ambivalenten Faszination« und beziehen darin auch die höchst aktuelle Thematik des Tyrannenmordes mit ein.
Die Übersetzung ist bei Schmitz/Engel weitgehend identisch mit der von Helmut Engel bereits 2009 in der LXXDts vorgelegten; Geras englische Übersetzung bemüht sich, »readable, but […] also fairly literal« zu sein. In der Durchführung fügen sich beide Kommentare den Vorgaben ihrer Reihe ein. Das bedeutet für Gera, dass sich der Übersetzung eines Abschnittes nach einem kurzen Ge­samtüberblick eine Vers-für-Vers-Auslegung anschließt, die vor allem Wert auf philologische Details und umfangreiche Nach­-weise von Parallelen aus der Literatur legt. Schmitz/Engel bieten ab­schnittweise Literaturangaben, Übersetzung, textkritische und über­setzungstechnische Anmerkungen und eine Vers-für-Vers-Auslegung, die stärker die theologischen Grundlinien und Zusammenhänge des Buches in den Blick nimmt.
Einzelheiten der Kommentierung können hier nicht im Detail vorgestellt werden. In beiden Fällen stellen die Auslegungen eine Fundgrube an Informationen dar und ergänzen sich gegenseitig; Gera weitet die Nachweise stärker in die zeitgenössische Literatur hinein aus, während Schmitz/Engel die Linien immer wieder auch bis in die Rezeptionsgeschichte verfolgen. In den Vers-um-Vers-Auslegungen ist der gesamte Ertrag einer inzwischen kaum noch zu überschauenden Forschungsliteratur eingesammelt, aufbereitet und übersichtlich präsentiert. Jedes einzelne Stichwort wird in seiner Semantik, seiner kultur- und theologiegeschichtlichen Einordnung bedacht. Historische Situation und narrative Fiktion werden sorgfältig zueinander in Beziehung gesetzt. In vergleichbarer Gründlichkeit ist der Text bislang jedenfalls noch nicht ausgelegt worden.
Stets bleibt in beiden Interpretationen auch die Rezeptionsgeschichte im Blick, die jedoch fast ausschließlich über die Benutzung der lateinischen Vulgata-Fassung erfolgt ist und demzufolge nur selten Anhalt an dem hier zugrundegelegten griechischen Text findet. Insofern geht es bei den wenigen Schlaglichtern, die auf der Ebene eines Kommentars gesetzt werden können, allein um die Rezeption der Judith-Figur als solcher. Schmitz/Engel bieten mit einem eigenen Abschnitt ihrer Bibliographie zur Rezeption des Buches Judith in Kunst, Musik und Literatur dazu noch einmal wertvolle weiterführende Hinweise.
Debora Levine Gera sowie Barbara Schmitz und Helmut Engel haben die Erforschung des Buches Judith schon seit einigen Jahren mit wichtigen Beiträgen bereichert und vorangetrieben. Dementsprechend fließen in beiden Kommentaren auch reichhaltige Erfahrung und umfangreiche Kenntnis zusammen. Sie markieren und bündeln den aktuellen Forschungsstand auf höchstem Niveau und deuten zugleich an, dass die jüdische Literatur des Zweiten Tempels wie der Beginn christlicher Kanonbildung die beiden maßgeblichen Pole zum Verständnis des Buches Judith darstellen.
Im Jahr 2017 wird eine neue, durchgesehene/revidierte Fassung der Lutherbibel erscheinen, in der die Apokryphen wieder als fester Bestandteil enthalten sind. Darin soll das Buch Judith, das seinerzeit von Justus Jonas und Philipp Melanchthon nach der Vulgata-Fassung übersetzt worden war, erstmals auch im Kontext der Lutherbibel nach der Septuaginta präsentiert werden. Es ist zu erwarten, dass das Buch Judith (wie die Apokryphen insgesamt) damit eine neue Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. Dafür aber gibt es wohl kein besseres vade mecum als diese beiden neuen Kommentare, die mit Nachdruck deutlich machen: Auch die »Frühjüdischen Texte/Apokryphen/Deuterokanonischen Schriften« sind ein wertvoller Besitz von Juden und Christen gleichermaßen.