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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

976–979

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Linde, Gesche

Titel/Untertitel:

Zeichen und Gewißheit. Semiotische Entfaltung eines protestantisch-theologischen Begriffs.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XVIII, 1133 S. = Religion in Philosophy and Theol-ogy, 69. Kart. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-149847-3.

Rezensent:

Thomas D. Micklich

Bei dieser umfangreichen Habilitation (Goethe-Universität Frankfurt a. M., 2005) von Gesche Linde handelt es sich um ein außergewöhnliches Werk. Das liegt an der Forscherkraft der Vfn. Vier Hauptthemen werden traktiert: »Gewissheit durch Erfahrung« (Kapitel I), »Gewissheit durch Zeichen« (Kapitel II), »Gewißheit durch Erfahrung von Zeichen« (Kapitel III) sowie »Gewißheit durch Interpretation von Zeichen« (Kapitel IV). Die Differenzen der Leitbegriffe Gewissheit, Erfahrung, Zeichen und Interpretation liefern den Schlüssel zum Verständnis des Buchs und ergeben ein bündiges Forschungsprogramm. Die Frage nach der Gewissheit benennt das zugrundeliegende Problem, die Frage nach dem Zeichen entwickelt den methodischen Zugang und bildet das Hauptthema. Virulent ist die Gewissheit moderner Subjektivität, die sich seit der frühen Neuzeit als reflexive Gewissheit formiert hat: als Gewissheit der Gewissheit. Einen Teil dieser Konstellation bilden Ansätze, die im Rahmen des neuen Paradigmas auf Unmittelbarkeit als Grundlage reflexiver Gewissheit abstellen, sei es des Gefühls (Kapitel I. 3) oder der Erfahrung (Kapitel I. 4). Die grundsätzlichen Paradoxien, die sich ergeben, lassen sich, so die These, letztlich erst durch den Zeichenbegriff entfalten. Die Vfn. verfolgt verschiedene Zugänge zur Gewissheitsbildung, zunächst ohne Bezug auf den Zeichenbegriff (Kapitel I), dann unter Bezugnahme auf ihn (Kapitel II–IV), um der Hauptthese der Arbeit »Vergewisserungsprozesse lassen sich sämtlich semiotisch, nämlich als Zeicheninterpretationsprozesse, beschreiben und analysieren, die Vergewisserungsprozesse des christlichen Glaubens eingeschlossen« (XI) Profil und Plausibilität zu verleihen. Die moderne Auffassung von Ver-Gewisserung wird nicht eigens problematisiert, jedoch überführt in die semiotische Fragestellung, wie Zeichenprozesse vergewisserte Gewissheit prozedieren. Gewissheit, Erfahrung, Zeichen und Interpretation sind in diesem Sinne zusammenzudenken und ergeben folgenden Zusammenhang: Gewissheit ist Erfahrung. Erfahrene Gewissheiten realisieren sich als Zeichen. Zeichen sind transitive Anschlussfunktionen, die aufgrund ihrer genuin triadischen Struktur gleichursprünglich ein Objekt (Erfahrung) für einen Interpretanten (Gewissheit) bezeichnen. Zeichenvermittelte Gewissheitserfahrungen stellen so komplexe Semiosen dar, deren höchste Form die Interpretation ist.
Strategisch entwickelt Kapitel I den Begriff der Gewissheit und diskutiert ihn am Topos der Erfahrung, ohne dass der Zeichenbegriff eine Rolle spielt. Gleichwohl wird deutlich, warum das Eingangskapitel mit den anderen, semiotisch ausgewiesenen Teilen sinnvoll verbunden ist. Demnach kann von einer Verklammerung der inneren Kapitel (II und III) durch die äußeren (I und IV) gesprochen werden, indem Kapitel I am Dilemma des Erfahrungsbegriffs das Paradigma des Zeichens ex negativo vorbereitet, Kapitel IV dieses positiv ausführt, während die inneren Kapitel historische Genese und sachliche Problematik auf dem Weg von der Erfahrung zum Zeichen je unterschiedlich in den Blick nehmen. Augustinus steht für den Fall einer negativen Bewertung der epistemologischen Leis-tungsfähigkeit des Zeichens (Kapitel II), Luther für den Fall einer positiven Bewertung derselben (Kapitel III). Die Pointe von Kapitel IV besteht darin, dass hier alle Aspekte der Frage nach Gewissheit und Erfahrung unter den Begriff des Zeichens gebracht sind.
Kapitel I untersucht drei Aspekte als Kriterien der Ausweisung des Wahrheitsanspruchs von Gewissheit seit der Aufklärung: Vernunft, Gefühl und Erfahrung. Gewissheit aus Vernunft abzuleiten wird am Denken Kants dargestellt (10–35), Gewissheit in der Gefühlsdimension zu lozieren am Werk Schleiermachers vorgeführt (36–70). Die protestantische Diskussion greife seit Mitte des 19. Jh.s auf den Topos der Erfahrung zurück, insofern Vernunft und Gefühl die Frage nach der Wahrheit der Gewissheit nicht befrie-digend zu lösen vermögen (71–216). Es folgt ein Überblick samt de­taillierter Diskussion verschiedener Entwürfe, ausgehend von der Erfahrungstheologie der Erlanger Schule über Wilhelm Herrmanns Erlebnistheologie bis hin zu religionspsychologischen Konzepten (u. a. William James, Rudolf Otto). Das Kapitel endet mit einer Diskussion der transzendentaltheologischen Bestimmung des Glaubensbegriffs bei Karl Heim. Die Nichtgegenständlichkeit unmittelbarer Gottesgewissheit bewirke eine Loslösung des Ge­wissheitsbegriffs vom Topos der Erfahrung. Kapitel II zerfällt in zwei Teile, insofern zuerst die historische Genese des Zeichenbegriffs (außerbiblisch, theoretisch, biblisch) nachgezeichnet wird (218–275), um sodann die Semiotik des Augustinus systematisch zu diskutieren (276–330). Dessen Konzeption stehe für »eine erdrutschartige Verschiebung« (277) im zeichentheoretischen Diskurs der Antike, insofern »er zwei unterschiedliche Theorietraditionen« verbinde, »mit denen er gleichermaßen vertraut ist: die griechisch/lateinisch-rhetorische einerseits und die stoische andererseits« (ebd.). Es stelle sich aber die Frage, »ob die Erkenntnis- und Vergewisserungsfunktion, die dem Indexzeichen von der rhetorisch-dialektischen Tradition so selbstverständlich zugemessen wird, auf das Sprachzeichen übertragbar sei und wie vor diesem Hintergrund die epistemologische Leistungsfähigkeit des signum im Blick auf die res überhaupt beurteilt werden müsse« (278). Augustinus’ neuplatonisch fundiertes Denken lasse aber eine positive Bewertung der epistemologischen Kraft des Zeichens nicht zu, er entwickle vielmehr »Semiotik als ontologische Theorie«, die sich an der Leitdifferenz von signa und res orientiere (ebd.) sowie im Bereich der res metaphysisch zwischen den sensibilia (res utenda) und intelligibilia (res fruenda) unterscheide (279 ff.304 ff.).
Die Darstellung mündet in eine Kritik, insofern den Zeichen keine epistemologisch eigenständige Kompetenz zugetraut werde. Hier kommt eine entscheidende Prämisse der gesamten Arbeit zum Tragen: Die Frage nach der Kraft der Zeichen wird gewissheitstheoretisch nach dem Modell moderner Reflexivität entschieden, wenn auch nicht mehr im Namen von Subjektivität oder In­tersubjektivität. In den Blick kommen sollen vielmehr Prozesse der Interpretantenbildung, die Subjektivität und Intersubjektivität semiotisch begründen. Dabei wird den Zeichen, gegen die neuplatonisch-augustinische Tradition, eine auch epistemologisch konstitutive Leistung zugemutet, um sie nicht auf eine letztlich nur äußere Vermittlungsfunktionalität reduzieren zu müssen. Ob und wie sie den substantiellen Grund bilden, den sie in transitiven Bezeichnungsprozessen reflexiv kommunizieren können sollen, wird leider nicht diskutiert.
Kapitel III rekonstruiert die theologische Semiotik Luthers als alternative Weiterentwicklung zu Augustinus, vor allem hinsichtlich einer positiveren Bewertung des Zeichens. Es wird deutlich, wie Verschiebungen im Verhältnis von Dialektik und Rhetorik einen auf die Affekte wirkenden, rhetorisierenden Zeichenbegriff zur Folge haben. »Luther vollzieht die humanistische Wendung vom logisch zwingenden Syllogismus zum glaubensbildenden Argument, von der Zeichen-Zeichen- bzw. Zeichen-Sache- zur Zeichen-Sache-Hörer-Relation, von der rationalen Zustimmung zur handlungsorientierenden Überzeugung, mit« (335). Damit entsteht »für Luther […] die Gewißheit des Glaubens nicht auf dem Wege der unmittelbar auf die res gerichteten Introspektion, sondern [verdankt] sich einem vom Heiligen Geist geführten Argumentationsprozeß, der in mehrfacher Hinsicht Zeichen involviert.« (Ebd.) Die Pointe dieser die rhetorische Dimension wesentlich betonenden Zeichenkonzeption Luthers kommt in dessen trinitätstheologischer Fassung der Vergewisserungsprozesse zum Ausdruck (565 ff.). Die hörerzentrierte Zuspitzung des Zeichenbegriffs eröffne so die Perspektive für Erfahrungen des Affektwechsels, die bewirken, dass man dem dialektisch-rational nicht begreiflichen Handeln Gottes dennoch Glauben schenken könne. Auf diesem Wege komme es zur Umschreibung des Topos der < /span>con-scientia durch den semiotisch verwertbaren Begriff der – kritisch zu entfaltenden (520 ff.) – Erfahrung im Sinne des sentire bzw. experiri der fides (554 ff.).
Kapitel IV entwickelt »die« Zeichenkonzeption des späten Peirce ab 1905, indem das semiotische Klassifikationssystem nach den zehn Trichotomien rekonstruiert wird. Ziel sei es, keine strenge Peirce-Exegese zu betreiben, sondern »die zehn Trichotomien zu einem transparenten, funktionstüchtigen und konsistenten Sys­tem aufzubauen« (XIII). An dieser Stelle kann sich die Vfn. weder auf eine breite Forschungsliteratur noch auf genaue Ausführungen von Peirce selbst stützen und liefert damit einen wichtigen Beitrag für die Diskussion. Grundlegend sei die phänomenologische Deutung der Semiotik »als einer Theorie der Bewußtseinsprozesse« und die Ausweitung des »Zeichenbegriffs zum Basisbegriff der Analyse und Beurteilung von Phänomenen« (724). Im chronologischen Durchgang durch Entwicklungsstufen der Zeichenkonzeption und mit jeweiligem Nebenblick für Varianten wird schließlich die semiotische Komplexität der Ideen systematisch entfaltet: die Definition des Zeichens als genuin triadischer Einheit seiner drei Relate Zeichen, Objekt und Interpretant (780 ff.); die sich aus diesem Kern ergebenden Zwischenstufen wie die berühmte Differenzierung nach drei Trichotomien von 1903 (784 f.); sodann die weitere Ausdifferenzierung nach sechs Trichotomien von 1904 (785 f.); endlich die wichtigsten Varianten der Konzeption der zehn Trichotomien ab 1905 (787 ff.). Die hierauf folgende systematische »Aufführung« des Zeichenkonzepts nach seinen zehn jeweils dreifach differenzierten kategorialen Aspekten muss als die Pointe der gesamten Studie angesehen werden, insofern menschliche Vergewisserungsprozesse nun in ihrer Vielfältigkeit analytisch erfasst und in ihrem i nneren Zusammenhang begriffen werden können. Für die den Zeichenbegriff vollendende zehnte Trichotomie gilt, »daß sie die Trichotomie der Gewißheit ist: der objektiven Gewißheit, derje-nigen Gewißheit, die einer Aussage logisch zugesprochen werden kann, je nachdem, von welchen Voraussetzungen sie in welcher Weise abgeleitet wird. […] die normalen Interpretanten der Zeichen aus der zehnten und letzten Trichotomie [liefern] die Begründungen für die in den normalen Interpretanten der Zeichen aus der neunten Trichotomie getroffenen Aussagen bzw. die dort gebildeten Überzeugungen und [überführen] auf diese Weise ›subjektive‹ Modalitäten in ››objektive‹ […]« (977).
Der theologische Schlussteil in IV.5, der eine Anwendung der Ergebnisse in Form einer Skizze der »Semiotik des Glaubens« versucht, profiliert abschließend zumindest ansatzweise die »semiotisch fundierte These«, »daß ›Gott‹ als dynamisches Objekt religiöser Aussagen nur im Modus abduktiv begründeter Urteile und darum unter dem Aspekt seiner Realität nur als objektive Möglichkeit ausgesagt werden kann« (1063).
Eine angemessene Würdigung von vier Buchprojekten in einem ist nicht zu leisten. Hervorzuheben sind die erstaunlichen Textkenntnisse sowohl der Primärquellen als auch der relevanten Se­kundärliteratur, ebenso die hermeneutische Durchdringung der nicht leicht zugänglichen Materien. Die Fülle der im Haupttext bzw. den Fußnoten teils in extenso wiedergegebenen Zitate ist auffällig, vielleicht diskussionswürdig, entspricht aber dem Studiencharakter der Arbeit. Man mag darüber streiten, ob Kürzungen und Weglassungen die Lektüre erleichtern könnten. Es ist aber zu be­denken, dass die zusammenhängenden Passagen den unmittelbaren Nachvollzug der Argumente »an Ort und Stelle« ermöglichen und in diesem Sinne als Optionen verstanden werden sollten. Die Maxime beim Lesen könnte sein, »daß Vergewisserung in jedem Interpretantentyp auf je verschiedene Weise eine Rolle spielt: Letztlich ist Interpretation eine Vergewisserung« (1056). Das Buch jedenfalls bietet Forschung in allerbester Tradition.