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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

965–967

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Holz, Hans Heinz

Titel/Untertitel:

Leibniz. Das Lebenswerk eines Universalgelehrten. Hrsg. u. m. e. Nachwort versehen v. J. Zimmer.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013. 314 S. Geb. EUR 79,90. ISBN 978-3-534-26267-0.

Rezensent:

Luca Basso

Hans Heinz Holz (der 2011 gestorben ist) hatte diese Monographie kurz vor seinem Tod abgeschlossen. Es ist zu betonen, dass die gesamte Reflexion von H., vom Beginn bis zum Ende, vom Bezug auf Leibniz (und auf Hegel und Marx) gekennzeichnet ist. Dann ist H. einer der wenigen Gelehrten, der die politische Philosophie von Leibniz bewertet hat: Es ist seine deutsche Anthologie der politischen Schriften von Leibniz (G. W. Leibniz, Politische Schriften, hrsg. v. H. H. Holz, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1967) zu erwähnen. Das Buch gliedert sich in zwei Abschnitte. Der erste Abschnitt (13–186) heißt »Philosophie« und der zweite Abschnitt (187–289) »Wissenschaftliche Praxis«. Dann sind ein Anhang in Bezug auf die Logik und die Metaphysik und ein Nachwort des Herausgebers, Jörg Zimmer, vorhanden. Im Zentrum des Buches steht eine dialektische Interpretation der Leibnizschen Perspektive in einer direkten Linie von Leibniz zum jungen Schelling, zu Hegel und Marx (27): »Die Leibnizsche Dialektik ist, seit Platon, der erste Versuch, die in der reinen Logik verbliebenen ungelösten Probleme von einem nicht nur methodologischen, sondern ontologisch fundierten Ausgangspunkt her zu denken und zu zeigen, daß jene Zweiheiten von Stoff und Form […] in einer übergreifenden Einheit gegründet sind« (134). Die Kontinuität mit der Hegelschen Dialektik wurde schon vor Langem in einer alten Monographie von H., Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel (Berlin/Neuwied am Rhein 1968), betont. In diesem Kontext ist entscheidend die Frage der Dialektik »Substanz-Struktur«: Die Monade erweist sich »als ein entelechial Seiendes, das in übergreifende Strukturen eingelassen und selbst strukturtragend ist« (72). Diese Betrachtungsweise ist auf eine enge Verbindung zwischen Logik und Metaphysik gegründet. Die erste kann nicht unabhängig von der zweiten interpretiert werden: Das stellt sich in Gegensatz zu jeder »logistischen« Interpretation wie der von Louis Couturat (136).
In diesem Szenario interpretiert H. die Rolle der Theodizee bei Leibniz nach einer säkularisierten, aufgeklärten und antidogmatischen Perspektive, nach einer »Enttheologisierung der Metaphysik« (120): »Gott wird durch die Notwendigkeit der Welt gerechtfertigt, er wird damit aber auch überflüssig – das ist das ungewollte und unausgesprochene Ergebnis der Leibnizschen Theodizee« (119). Eine wichtige Rolle spielt die natürliche Theologie, die »nicht in Widerspruch zu Vernunft und Naturerkenntnis stehen darf. Es ist interessant, daß in dieser Enzyklopädie die Offenbarung keinen Platz hat« (194). H. vertritt die These, dass das Leibnizsche Streben nach einer Einheit der Konfessionen ein wichtiges irenisches Friedensprogramm mit einem politischen Charakter war (224 f.). Die universale Toleranz kommt aus der Vernunft und postuliert »den Vorrang der Vernunft vor der kirchlichen Autorität« (227). Diese Perspektive besitzt einen dynamischen Charakter und ist von dem Element des Fortschritts gekennzeichnet. Hier kommt auch der Bezug auf Marx hinzu. Dazu ist der Einfluss von Ernst Bloch (bei dem H. in Leipzig promoviert hatte) sehr relevant, der in seinen Vorlesungen ( Neuzeitliche Philosophie I: von Descartes bis Rousseau, Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie: 1950–1956, Frankfurt a. M. 1985) eine große Bewertung der Leibnizschen Philosophie vorgelegt hatte. Aber es ist nicht zu vergessen, dass das Wort »Universalgelehrter« im Titel des Buches benutzt wird. Zum Verständnis dieser Frage ist ein erstes wichtiges Element die politische Rolle der Wissenschaft, von der H. lange in der zweiten Hälfte des Textes spricht. Ein zweites entscheidendes Element betrifft das Thema des Universalismus. In der Tat ist das ganze Leibnizsche Denken von dem Begriff des Allgemeinen nach einer Gliederung seiner Ebenen gekennzeichnet: »logisch als generalitas«, »ontisch als totalitas«, »politisch-metaphysisch als das commune bonum« (114).
Besonders relevant ist die Frage des Verhältnisses Philosophie-Politik. Nach H. ist einerseits eine enge Verbindung zwischen der Philosophie und der Politik vorhanden, andererseits kann die Politik nicht sic et simpliciter aus der Metaphysik abgeleitet werden: »Der Politiker Leibniz lässt sich vom Rechts- und Staatsphilosophen Leibniz klar scheiden – nicht derart, dass Praxis und Theorie auseinanderfielen, sondern vielmehr so, daß sich der praktische Politiker nie vom theoretischen Denker in die Sackgasse des bloßen Wunschdenkens und der Illusion verführen ließ. Politik war für ihn im strengen Sinne die Kunst des Möglichen.« (239 f.) So entsteht ein komplexes Verhältnis zwischen den erwähnten Ebenen, in Richtung einer pragmatischen und anti-utopischen Perspektive (241). Aber das bedeutet nicht, dass es kein Verhältnis zwischen Metaphysik, Ethik und Politik gibt. In diesem Kontext ist entscheidend der Bezug auf das Gemeinwohl nach einer nicht-individualis­tischen Begründung der Reflexion: »Weil die Natur des Menschen sozial ist, nämlich auf Kooperation angelegt und angewiesen, ist die Anpassung des individuellen Interesses an das summum bonum die vollkommenere Weise der menschlichen Selbsterhaltung als der Egoismus« (109). Das setzt die Priorität des Ganzen über das Einzelne voraus, oder besser, »seine Vorstellung vom commune bonum […] zielte auf die Identität von Individualwohl und Gemeinwohl in einer auf Vernunftprinzipien errichteten Gesellschaft, in der jedem einzelnen die volle Entfaltung seiner Anlagen und Möglichkeiten gesichert wäre« (284). Diese Anerkennung des commune bonum operiert direkt in politischen Fragen, auch in Bezug auf die damalige Struktur des Deutschen Reiches: »Die Union der Stände als Harmonisierung ihrer Interessen mußte das commune bonum fördern und sich damit zugleich als nützlich für die Einzelgliedstaaten erweisen.« (248) Aber die Priorität des Ganzen bedeutet nicht eine Negierung der Vielfalt sowohl der gesellschaftlichen Wirklichkeiten als auch der autoritativen Figuren. Zum Beispiel im Caesarinus Fuers-tenerius ist das Verhältnis zwischen der Souveränität der Fürsten und der Majestät des Kaisers entscheidend: Das Ziel ist »die Kompossibilität und Harmonie« (249) der Glieder des Reiches.
Das Buch von H. besitzt eine innere Kohärenz und bietet zahlreiche relevante Beobachtungen für die Interpretation von Leibniz. Zwei Aspekte, die problematisiert werden könnten, sind die folgenden. Erstens, in meiner Ansicht wird die Linie Leibniz-Deutscher Idealismus zu stark betont. Man könnte auch mehr die Aspekte der Nicht-Kontinuität zwischen den gezeigten Philosophen in Betracht ziehen. Zweitens werden von H. die mittelalterlichen Elemente und auch die Mehrdeutigkeit in Bezug auf die Frage der Knechtschaft bei Leibniz unterbewertet. Aber trotz dieser Aspekte ist das Werk von H. sehr verdienstvoll, weil es ein gesamtes Bild von Leibniz entwirft, das die Komplexität und auch den dynamischen Charakter der Reflexion sehr gut entstehen lässt. Besonders relevant ist seine Anerkennung des politischen Denkens von Leibniz: Sicherlich war das lange engagement von H. mit den politischen Schriften eine Pionierleistung.