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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

941–943

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Lagouanère, Jérôme

Titel/Untertitel:

Intériorité et réflexivité dans la pensée de saint Augustin. Formes et genèse d’une conceptualisation.

Verlag:

Turnhout: Brepols Publishers (Institut d’Études Augustiniennes) 2012. 694 S. = Collection des Études Augustiniennes. Série Antiquité, 194. Kart. EUR 42,99. ISBN 978-2-85121-251-1.

Rezensent:

Cardiff Josef Lössl

Diese äußerst umfangreiche und dennoch dicht gedrängte Studie von Jérôme Lagouanère hat einen zentralen Bereich augustinischen Denkens zum Thema. Sie beschäftigt sich mit der Ausrichtung und der Offenheit dieses Denkens »nach innen«, d. h. mit der auf eine innere Unendlichkeit hin offenen Geistigkeit bzw. intellektuellen Verfasstheit des Menschen. Mit dieser einher geht bei Augustinus eine radikale »Reflexivität«, die »Spiegelung« dieser letztlich unauslotbaren geistigen Offenheit im menschlichen Selbst. Und so lautet auch der Titel des Buchs »interiorité et réflexivité«. Vor allem das letzte Kapitel (Kapitel 4) ist dieser Zusammenschau gewidmet, und zwar unter Verweis auf die von Augustinus in diesem Zusammenhang häufig zitierte Paulus-Stelle 1Kor 13,12: »Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht«. Das Vorgehen, die Methode der vorliegenden Studie besteht zum einen in ausführlichen Analysen der von Augustinus zur Erfassung dieses geistigen Raums verwendeten sprachlichen Formen, also der von ihm eingesetzten und auch für seine Zwecke modifizierten Begriffe, vor allem anima, animus, mens, ratio, intellectus, intellegentia, memoria, voluntas und spiritus, und zum anderen in dem Versuch, mit Hilfe dieser Analysen eine dynamische Entwicklung jenes zentralen Denkens Augustins nachzuzeichnen. Dementsprechend lautet auch der Untertitel dieser Studie »formes et genèse d’une conceptualisation«. In Verbindung mit den Hauptstadien dieser Entwicklung werden drei Werke bzw. Werkgruppen Augustins genauer untersucht: 1) die philosophischen Frühdialoge, insbesondere die Soliloquien, De immortalitate animae, De quantitate animae und De magistro, 2) die Confessiones und 3) De Trinitate.
Das Buch ist gegliedert in zwei Hauptteile, bestehend aus je zwei Kapiteln. Teil 1 beginnt mit der akribischen Analyse der oben aufgelisteten Ausdrücke (Kapitel 1) und geht dann dazu über, die Funktion dieser Begriffe im Zuge der Dynamik der ascensio bzw. des ascensus, der inneren Aufstiegsbewegung der Seele darzustellen (Kapitel 2). »D’une topologie à une itinéraire«, so lautet der Unter-titel dieses ersten Hauptteils, von einer statischen (»topographischen«) Bestandsaufnahme der von Augustinus für die Zwecke seiner Philosophie eingesetzten, überraschend stabilen Terminologie zu einem Nachvollzug seiner dynamischen transzendentalen Denkentwürfe etwa in De vera religione 45–72 (noli foras ire …), Confessiones 9,10,23–25 (Ostia-Vision) und De Trinitate (an verschiedenen Stellen in den Büchern 5, 6, 7 und 10). L. vergleicht die an diesen Stellen erforschten transzendentalen Denkphänomene mit Einsichten und Entwürfen von Philosophien der Moderne und der Gegenwart, etwa Descartes’ Cogito, Brentanos Intentionalität und Husserls eidetischer Reduktion, und verweist darauf, dass sogar in den heutigen Neurowissenschaften Phänomene wie die geistige Aufmerksamkeit und der Wachzustand auf ihre psychologischen Grundlagen und philosophischen Voraussetzungen hin untersucht werden (369–371). Nach Ansicht L.s hat Augustinus mit seinen Transzendentalanalysen seinem Denken gemäße fundamentaltheologische Grundlagen geschaffen, auf denen er nunmehr seine »Anthropo-Theologie« aufbauen kann. Diese Anthropo-Theologie wird im zweiten Teil des Buches entfaltet. L. nennt sie eine »augustinische Anthropo-Theologie des Bildes«. Dabei ist Kapitel 3 den Begriffen imago und similitudo in Bezug auf den Menschen gewidmet und Kapitel 4 dem Begriff des Spiegels bzw. des Enigmas (entsprechend 1Kor 13,12: speculum in aenigmate) in Bezug auf die Beziehung des Menschen zu Gott und zu sich selbst. Beide Kapitel gehen ausführlich auf die antiken und biblischen Quellen dieser Motive ein, Kapitel 3 etwa auf Gen 1,26 und auf das platonische Motiv der ὁμοίωσις θεῷ als Erfüllung des Menschseins (394). Kapitel 4 bietet u. a. auf mehr als 70 Seiten eine Geschichte der Auslegung von 1Kor 13,12 bis Augustinus. Eines der zentralen Bilder Augustins für die trinitarische Dynamik ist die Dreiheit von Gedächtnis (memoria), Einsicht (intellegentia bzw. intellectus) und Wille (voluntas). Im Zuge dieser Dynamik hat auch der Mensch als geistiges Wesen, d. h. seine Seele, die Fähigkeit zum gänzlichen Selbstsein, zur Selbstgenügsamkeit. Er begreift sich selbst, entwickelt eine innere Einsicht dieses Selbstbesitzes und verhält sich positiv dazu, d. h. er liebt sich selbst. Insofern der Mensch Geschöpf ist, ist dieses Verhältnis abbildhaft; d. h. der Mensch genügt sich nicht wirklich selbst, sondern er ist in dieser Erfahrung über sich hinaus verwiesen, auf einen Anderen, und letztlich auf Gott. Die Wirklichkeit dieses Anderen bleibt für den Menschen jedoch auf ewig unerreichbar. Sie ist für ihn nicht als etwas in ihm selbst Ruhendes gegenwärtig, sondern als eine Sehnsucht nach jenem anderen. Darin besteht die Unendlichkeit des Menschen (im Unterschied zur für den Menschen als solcher unzugänglichen Wirklichkeit Gottes). Letztere ist Urbild, erstere Abbild. In der Einsicht dieses Verhältnisses seitens des Menschen besteht seine Reflexivität. Mag der Mensch auch noch so sehr geistig über sich hinaus nach einem jenseitigen Gegenüber seiner selbst langen, er ist doch immer wieder auf sich selbst zurückverwiesen. In diesem Streben lebt er zwar seine innere Geistigkeit aus, letztlich Verwirklichung findet er dabei jedoch nicht. Er hat von sich aus keinen direkten Zugang zum wahrhaft Anderen, lediglich eine vage Ahnung, die sein eigenes Spiegelbild ihm vermittelt. Doch gibt es, so L., nach Augustinus eine Lösung für dieses Problem. L. geht dazu zum Schluss seiner Studie noch einen Schritt weiter und interpretiert dieses trinitarische Gefüge der menschlichen Seele nicht nur als Bild, sondern auch als Zeichen (582). Er füllt damit das Bild mit sprachlichem Inhalt. Die Reflexivität der menschlichen Seele ist nicht nur eine leere Form, sondern Ort eines hermeneutischen Prozesses. Den Inhalt liefert das durch die Heilige Schrift vermittelte Wort Gottes. Das von außen an den Menschen herangetragene Wort Gottes hat seine Entsprechung in einem der Seele innewohnenden Wort (verbum intimum), durch das die Seele sich in jenem äußeren Wort wiedererkennt. In der Bekehrung wird diese Wiedererkennung zu einer Wiedergeburt. L. spielt hier mit den Worten naissance und co-naissance (588). Die biblische Botschaft füllt die menschliche Existenz mit Bedeutung. Was sich vom Menschen her als eine unerschöpfliche und unerreichbare Unendlichkeit auftut, erweist sich von Gott her als konkrete Menschwerdung: Gottes Wort wird Fleisch. Die Innerlichkeit des Menschen ist keine rein geistige Selbstverwiesenheit. Sie erweist sich vielmehr als auf wirkliche, sinnerfüllte Intersubjektivität hin angelegt. Der in De Magistro beschworene »innere Lehrer«, Chris­tus, die Manifestation der Gnade Gottes, das Kriterium der Wahrheit, das die in De Academicis kritisierten Skeptiker zu ihrem Verderben geringachten, die realistische Aussicht auf eine endgültige Erfüllung der Sehnsucht nach Gott, und zwar nicht vom Menschen, sondern von Gott her: All diese Motive fließen am Ende dieser Studie zusammen und verdichten sich zu einem Ganzen. Ausgehend von einer »Topologie der Innerlichkeit« des Menschen, so L. zum Schluss, war es seine Absicht, in dieser Studie eine »Hermeneutik des Selbst« zu entwickeln (609). Diese Hermeneutik bleibt weitgehend philosophisch. Sie dringt nicht in den Bereich der Kirchlichkeit Augustins vor. Augustins Tätigkeit als Bischof, ob im sakramental-liturgischen, lehramtlichen oder auch pastoralen Bereich bleibt im Wesentlichen ausgeklammert. Dennoch ist sie auch theologisch, man könnte sagen, »fundamentaltheologisch«. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass ohne Rezeptivität seitens des Menschen, die natürlich von Gott selbst in der Schöpfung des Menschen nach seinem Bild und Gleichnis angelegt wurde, ein Ankommen des Wortes Gottes in der Welt letztlich nicht denkbar ist. L. versteht das vorsprachliche »innere Wort« als das Organ dieser Rezeptivität, als eine textartige, zeichenhafte Struktur in der menschlichen Seele, die erst durch die in ihr rezipierte und interpretierte biblische Botschaft ihre wahre, letztgültige Bedeutung offenbart. L. hat somit mit dieser Studie eine faszinierende neue Inter-pretation von Augustins Seelenlehre vorgelegt, die nicht nur für Augustinforscher im engeren Sinn von Interesse sein dürfte, sondern für alle, die sich im weiteren Sinn für theologische Erkenntnislehre, »philosophische Theologie« und Fundamentaltheologie interessieren.