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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

913–915

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Lahe, Jaan

Titel/Untertitel:

Gnosis und Judentum. Alttestamentliche und jüdische Motive in der gnostischen Literatur und das Ursprungsproblem der Gnosis.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2012. XXIV, 448 S. = Nag Hammadi and Manichaean Studies, 75. Geb. EUR 143,00. ISBN 978-90-04-20618-2.

Rezensent:

Claudia Losekam

Die Studie von Jaan Lahe wurde im Jahre 2009 an der Theologischen Universität Tartu, Estland, als Dissertation verteidigt.
Das Thema der Arbeit, »Gnosis und Judentum« ausgerichtet auf das Ursprungsproblem der Gnosis, ist kein neues, aber noch immer vieldiskutiertes Thema der Forschung. Bereits Ferdinand Christian Baur (Die christliche Gnosis oder die christliche Religions-Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 1835) leitete die gnostische Strömung aus der jüdisch-alexandrinischen Religionsphilosophie ab. Auch jüdische Forscher des 19. Jh.s (Heinrich Grätz, Gnosticismus und Judentum, 1846, und Moritz Friedländer, Der vorchristliche Gnosticismus, 1898) verorten gnostische Spuren im Judentum, deren Bedeutung für die Entwicklung der jüdischen Mystik Gershom Scholem durch den Begriff der »jüdischen Gnosis« (Merkabah Mysticism and Jewish Gnosticism, in: Major Trends in Jewish Mysticism, 1941) betont hat. Die Entdeckung der Nag-Hammadi-Kodizes im 20. Jh. beförderte Arbeiten zahlreicher Forscher wie A. Böhlig, B. Pearson, G. Quispel, K. Rudolph, H.-M. Schenke, C. Van Unnik und anderen zu jüdischen Elementen in der Gnosis. Selbst die jüngsten Arbeiten von D. Burns (Sethian Crowns; Apocalypse of the Alien God) zum jüdisch-christlichen Hintergrund der sethianischen Literatur bezeugen die Aktualität des Themas.
L.s Studie mit dem Titel »Gnosis und Judentum« steht in der Tradition der Arbeiten seines Lehrers, des Religionswissenschaftlers Kurt Rudolph. Der Untertitel »Alttestamentliche und jüdische Motive in der gnostischen Literatur und das Ursprungsproblem der Gnosis« steckt den Fokus ab. Dabei ist das Ziel der Studie nicht, »eine neue These zur Entstehung der Gnosis vorzulegen, sondern eine alte Theorie noch einmal kritisch zu überprüfen« (4).
Aufbau und Gliederung zeichnen sich durch eine klare Zwei-teilung aus. Der erste Hauptteil unter der Überschrift: »Die Frage nach dem Ursprung der Gnosis« gibt einen Überblick über die Definitionen des Begriffes »Gnosis« (11–25), die wichtigsten Vorstellungen, was Gnosis sei (26–30), eine Aufzählung der Hauptmerkmale der Gnosis in der Forschung und deren Kritik (30–54) sowie die Vorstellung und Diskussion verschiedener Ursprungstheorien (55–170). Dieser eher methodologische Teil schließt mit zwei Exkursen zu Entstehungszeit (171–175) und Entstehungsort der Gnosis (177–179) sowie einer zusammenfassenden Definition der Gnosis und ihres Ursprungs (183–185). Im zweiten Hauptteil (189–392) wendet sich L. den gnostischen Quellen zu, um anhand des alttestament-lichen und jüdischen Stoffs die »Frage nach den Beziehungen zwischen Gnosis und Judentum« zu beantworten. Eine knappe Zu­sam­menfassung der Ergebnisse (393–395), ein Quellen- und Literaturverzeichnis (397–433) und Register (435–447) runden die Studie ab.
Im fast 200 Seiten umfassenden ersten Hauptteil arbeitet L. seine These heraus und gibt dem Leser einen hilfreichen Überblick über die mannigfachen Definitionen zu dem Phänomen Gnosis und den Theorien ihres Ursprungs. So führt L. die verschiedenen Gnosis-Definitionen seit Leisegang auf, verweist auf die Hauptdifferenz des 20. Jh.s, die Frage, ob die Gnosis als Religion oder Philosophie zu verstehen sei, und endet mit der Definition: »Gnosis war also in erster Linie eine religiöse Bewegung der Spätantike« (29). Damit versteht L. »Gnosis« in Anlehnung an Gerd Theißen als ein Phänomen, das in verschiedenen Religionen der Spätantike anzutreffen ist. Die Aufzählung und der tabellarische Überblick der Merkmale der Gnosis in der Forschung (30–39) sind als typologische Konstrukte zwar Verallgemeinerungen, die nicht in allen Texten anzutreffen sind, vermitteln dem Leser jedoch ein Ensemble gnos­tischer Wesensmerkmale. L. fasst die wichtigsten Merkmale der Gnosis in sechs Punkten zusammen (184).
Ls. Analyse der religionsgeschichtlichen Ursprungstheorien lässt zwar eine Favorisierung der polykausalen Herleitung der Gnosis (169) mit Einflüssen aus verschiedenen Religionen erkennen, betont aber die prägende Rolle jüdischer Elemente bei der Entstehung der Gnosis. Diese zeichne sich in der Dominanz jüdischer Vorstellungen und Ideen neben christlichen und platonischen, den Hinweisen einer nicht christlichen Gnosis und der Bedeutung alttestamentlicher und jüdischer Motive in Texten ohne Einfluss der griechischen Philosophie (169 f.184 f.) ab. Daraus leitet L. seine in der Einleitung formulierte Arbeitshypothese der Entstehung der Gnosis aus dem antiken Judentum ab (3). Er geht davon aus, »dass die Menschen, die wir als ›Gnostiker‹ bezeichnen, das Alte Testament und die jüdischen Texte und Überlieferungen gekannt und gebraucht haben« (2). Der Personenkreis erster Gnostiker kann nach L. aus Personen mit persönlichen Beziehungen zum Judentum, aus Juden selbst sowie aus Proselyten oder jüdischen Apostaten (2) bestanden haben. Zur Verifizierung dieser These analysiert er im zweiten Hauptteil, welche alttestamentlichen Texte, Überlieferungen und Motive durch die Gnostiker benutzt wurden, in welcher Weise und zu welchem Zweck sie interpretiert wurden und welche Rolle die jüdischen Elemente bei der Entstehung der Gnosis gespielt haben (196).
Der zweite Hauptteil bietet eine komprimierte Darstellung alttestamentlicher und jüdischer Stoffe in gnostischen Schriften. Ausgewertet werden die Nag-Hammadi-Schriften, patristische Texte sowie einschlägige Stellen der mandäischen und hermetischen Literatur. Neben alttestamentlichen Erzählungen oder Figuren berücksichtigt L. auch Figuren, Namen, Erzählungen, Zitate und Paraphrasen der außerbiblischen apokalyptischen und pseudepigraphen Literatur. Mythologeme mit eindeutig jüdischem Hintergrund wie die Unterscheidung zwischen dem unbekannten Gott und dem Demiurgen, die Vorstellung von den sieben Planetenherrschern und Engeln oder der »Sophia-Mythos« werden in einem eigenen Unterkapitel (II.2.1.13; 336–357) erläutert. In der Durchsicht des Materials verzichtet L. auf eigene philologische Analysen und wählt einen religionsgeschichtlich orientierten Ansatz, wobei er sich ausschließlich auf philologische Analysen »verschiedener Textkritiker« (4) stützt.
Die Stärke des zweiten Hauptteils besteht in der Präsentation einer Vielfalt alttestamentlicher und jüdischer Motive in der gnos­tischen und mandäischen Literatur. Die Bewertung der Stoffe, die sich an P. Nagels Typologie (in: K.-W. Tröger, Altes Testament – Frühjudentum – Gnosis, 49–70) der Auslegung des Alten Testaments in gnostischen Texten orientiere (6.194.388), weist aber eine Affinität zu der durch Rudolph propagierten »Protestexegese« (205.210. 221.263.282 u. ö.) auf. Damit einher geht L.s bevorzugte Theorie jüdischer Apostaten oder Proselyten, die im Konflikt zu der sich ausbildenden jüdischen Orthodoxie standen, als Ursprungsmilieu der Gnosis (395). Doch die Umwertung des alttestamentlichen Stoffes und die Verwendung jüdischer Motive der Apokalyptik in gnostischen Texten muss eine christlich-jüdische Abgrenzung als Entstehungskontext nicht ausschließen. So ist beispielsweise die Identifizierung Samaels als einer der gefallenen Engel des Wächterbuches (239 f.363) nicht ursprünglich, und seine Gleichsetzung mit dem Satan in AscJes und grBar steht im Verdacht christlicher Bearbeitung. Samael als Name des Satans ist in der jüdischen Literatur erst ab dem Zohar von Bedeutung.
Eine größere Sorgfalt bei der Gestaltung der Studie wäre wünschenswert. Exemplarisch sei die fehlerhafte Begrifflichkeit (»Rabbiner« [125.146] statt Rabbinen; »pseudoepigraphische Literatur« [196] bzw. »Pseudoepigraphen« [239] statt pseudepigraphische Literatur und Pseudepigraphen) und die Punktierung des Hebräischen angeführt, die durchgehend verrutscht ist.
Insgesamt bietet L.s Überblick zu Definition, Ursprungstheorien und der Vorstellung der alttestamentlichen Stoffe und jüdischen Motive eine imposante Zusammenschau der Gnosis-Forschung der vergangenen Jahrzehnte und eine gute Ausgangsba-sis vertiefter Einzelstudien zur Bedeutung des jüdischen Hintergrunds gnostischer Anschauungen oder möglicher Parallelentwicklungen gnostischer und jüdisch-christlicher Vorstellungen.