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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

845–848

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ringleben, Joachim

Titel/Untertitel:

Das philosophische Evangelium. Theologische Auslegung des Johannesevangeliums im Horizont des Sprachdenkens.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XIII, 545 S. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 64. Lw. EUR 144,00. ISBN 978-3-16-153202-3.

Rezensent:

Hans Weder

Diese Arbeit von Joachim Ringleben, dem emeritierten Göttinger Professor für Systematische Theologie, konzentriert sich auf ein Zwiefaches: Sie will, erstens, den »gedanklichen Gehalt« des Johannesevangeliums »herausarbeiten und […] in seiner Logik begreifen«. Dabei soll, zweitens, »die sprachliche Gestalt der Texte als adäqua-ter Ausdruck des theologischen Gedankens verstanden werden« (1). R. ruft einen Umgang mit dem Text in Erinnerung, den auch Neu-testamentlerinnen und Neutestamentler als ihre vornehmste Aufgabe betrachten sollten: So wichtig es ist, die historischen Gegebenheiten hinter und neben den Texten zu erhellen, so sehr müsste das Interesse der Exegeten auf die sachintensive Auseinandersetzung mit den Texten selbst gerichtet sein und auf das Nachdenken über die philosophischen Konsequenzen dessen, was im Vordergrund der Texte ausgesprochen wird. Die meisten neutestamentlichen Texte fordern als solche dazu auf, dass ihnen nachgedacht wird bis i n die letzte systematische Konsequenz. Dies gilt in besonderer Weise vom Johannesevangelium – von R. immer wieder und zu Recht als »philosophisches Evangelium« qualifiziert (»philosophisch, weil es in ihm immer auch entscheidend um das Verhältnis des göttlichen Logos zu den logoi der Menschensprache geht«, 136, oder um eine »begreifende Schau«, 194) –, gehört es doch zu den am meisten fortgeschrittenen theologischen Entwürfen des frühen Christentums. Deshalb verwundert es nicht, dass R. seine theologische Auslegung gerade anhand des Johannesevangeliums durchführt.
Von zentraler, beinahe axiomatischer Bedeutung für die vorliegende Arbeit ist der intensive sachliche Zusammenhang zwischen dem Prolog und dem Evangelium. Charakteristisch für das vierte Evangelium ist nach R., dass es »das Leben und Reden (sprachliche Handeln) Jesu ganz von daher versteht, dass in ihm der ewige Logos (des Prologs) da ist und sich ausspricht« (6). Diese inkarnationstheologische Charakterisierung geschieht nach dem Urteil des Rezensenten völlig zu Recht (weder eine doketische noch eine antidoketische Lektüre ist angemessen). Der Prolog ist so etwas wie die grundlegende hermeneutische Anweisung zum Verstehen dessen, der da im Vordergrund der Welt als menschliches Wesen aufgetreten und am Kreuz gestorben ist (das gesamte Joh wird »im Sinne solcher ›Logologie‹ des Prologs begriffen«, so dass der Ausleger »un­vermeidlich im Horizont des Sprachdenkens« steht; 7). R. trägt diesem Sachverhalt dadurch Rechnung, dass er einerseits eine ausführliche Auslegung des Prologs an den Anfang stellt (erster Teil, 9–129), gefolgt von einem zweiten Teil mit der Überschrift »Das Evangelium (Der Logos im Fleisch)«, in welchem das Joh über weite Strecken kommentarähnlich bearbeitet wird und welcher den gesamten Rest des Buches füllt (131–532). Der fundamentalen Be­deutung des Prologs wird ferner auch dadurch auf intensive Weise Rechnung getragen, dass die Gliederung des zweiten Teils durch den ersten Vers des Prologs, der schlechthin grundlegend ist (11 f.), bestimmt wird:
Das Bei-Gott-Sein von Joh 1,1b markiert die Grundorientierung des ersten Kapitels (des zweiten Teils; 139 ff. mit der Überschrift »Jesus und das Bei-Gott-Sein [Entsprechungen zu 1,1b]«): Hier werden Themen wie »Hören und Reden« (143 ff.; Jesus ist insofern bei Gott, als er das Wort ist, das er aus dem Hören auf den Logos Gottes spricht, vgl. 155), »Hören und Lesen (Erfüllung der Schrift)« (161 ff.; Joh 2,1 ff. wird unter dem Gesichtspunkt der Erfüllung des Gesetzes ausgelegt und gipfelt in der Aussage, dass die »faktische Erfüllung der Schrift« in Jesu Wort geschieht, vgl. 2,22b; 164), »Perichorese (Gegenwärtiges In-Sein)« (243ff., die wechselseitige Immanenz von Logos und Gott wiederholt sich in derjenigen von Christus und Glaubenden; sie ist »sprachlich vermittelt«, vgl. 247–249) oder »Das hohepriesterliche Gebet (17,1–26)« (302 ff., es wird als das »systematische Gegenstück zum Prolog« bezeichnet, da hier »die Rückkehr Jesu zum Vater eingeleitet wird«, 302) behandelt.
Das Im-Anfang-Sein des Logos in 1,1a ergibt das Leitmotiv des zweiten Kapitels (»Jesus und das Anfang-Sein [Entsprechungen zu 1,1a]«, 315–424). Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Logos ins konkrete Menschsein eintritt (er »erscheint als Mensch unter Menschen«, 316; vgl. 316–327) und dass zugleich der unvordenkliche Anfang stets mitgeht (exemplifiziert am Beispiel des Ego-eimi-Worts von Joh 8,38 mit dem Ergebnis: »Jesu εἰμί übergreift in einem ungeheuren Spannungsbogen das ewige Sein des Logos – vor aller Zeit – ebenso wie die Präsenz als dieser Mensch da«, 327). Es geht um das zeitliche Sein des Logos (der seine »Stunde« hat, vgl. 331), um die unlösliche Verbindung zwischen seinem Kommen und seinem (notwendigen) Gehen (328–356), um den Weg in das Leiden und den Tod (357 ff.; sehr erhellend sind hier die Überlegungen zur Frage des Pilatus nach der Wahrheit, 371 ff.; R. unternimmt den Versuch, die personale Gestalt der Wahrheit in ihrem Aktiv-Sein in den Blick zu nehmen, also so etwas wie die Wirksamkeit der Wahrheit konkret zu denken; vgl. dazu die Auslegung von Joh 1,17: 104 ff.), um die Auferstehung (die Thomas-Perikope wird vom »Verhältnis von sinnlicher Gewissheit und Sprache her begriffen«, gängige Missverständnisse wie etwa der oft festgestellte Tadel am Thomasglauben werden ausgeräumt; vgl. 408 f.) und die Verherrlichung (413 ff.).
Das »Gott-Sein« des Logos (Joh 1,1c) wird im abschließenden dritten Kapitel genauer bedacht (»Jesus und das Gott-Sein [Entsprechungen zu 1,1c]«, 425–532). Breite Überlegungen gelten hier dem »Ego eimi« (435 ff.; die in dieser Arbeit gewählte an der sprachlichen Gestalt orientierte Darstellungsweise bringt eine gewisse Redundanz mit sich, die man vielleicht da und dort hätte vermeiden können). Im Abschnitt über Joh 14,6a (»Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben«) wird die enge Verbindung von Exklusivität (Jesus allein ist der Gesandte, vgl. 518 f.) und Universalität (sie ist durch den ewigen Logos gegeben und wird nach dem Urteil R.s im Joh an vielen Stellen zum Ausdruck gebracht, z. B. 12,20 ff., vgl. 519–521) genauer bedacht. R. gibt der Tatsache, dass das Joh seine Botschaft im »sprachlich-gedanklichen (logoshaften) Medium des Griechischen vorträgt«, eine » theologische Bedeutung« in Richtung Universalität beziehungsweise »Offenheit für das griechische Denken« (520). Dieses Ineinander von Exklusivität und Universalität ist wohl ein Charakteristikum des Johannesevangeliums (obwohl es häufig im allein exklusiven Sinne ausgelegt wird); es ist wegweisend für jede auf die Christologie konzentrierte Theologie. Man fragt sich, ob R. wohl der folgenden These zustimmen würde: Wer Jesus hat, hat die Wahrheit, und wer die Wahrheit hat, hat Jesus. Wenn ja, hätte dies erhebliche fundamentaltheologische Konsequenzen.
»Die vollständige Kenntnis der Sekundärliteratur schützt vor Entdeckungen«, stellt R. im Anschluss an H. Heimpel im Vorwort fest (VII; das Zitat wird allerdings nicht nachgewiesen). Niemand wird angesichts des Joh von einem Autor die vollständige Kenntnis der Sekundärliteratur verlangen. Allerdings ist das Gegenteil davon auch wahr: Die Kenntnis der Literatur kann ebenso gut Entde-ckungen vermitteln. Dies wird im vorliegenden Buch dokumentiert durch die intensive Verwendung vor allem philosophischer und systematisch-theologischer Arbeiten. Eine wichtige Rolle spielt das Gesamtwerk von Bruno Liebrucks, »das von der Sprache her denkt, um die Anstrengung, ›die Genese davon zu begreifen, dass im Anfang, den es nur in einer nichtpositiven Welt gibt, das Wort war, und dass Gott das Wort war‹« (316). Wenn der Rezensent recht sieht, leistet dieser philosophische Entwurf in R.s Auslegung ein Stück dessen, was man von einem modernen hermeneutischen Zugang erwartet, nämlich ein Stück Beantwortung der Wahrheitsfrage oder ein Stück Ermessen der Tragweite, welche die ausgelegten Texte haben (ebendiese Frage nach der Tragweite der Texte kommt in dieser Arbeit nicht im völligen Übermaß vor).
Vielleicht hätte auch eine etwas intensivere Berücksichtigung exegetischer (namentlich philologischer) Arbeiten da und dort zu einer Entdeckung geführt: Als Beispiel sei das πρός in Joh 1,1b genannt, welches eben mehr bedeutet als nur ein »bei Gott«, das auch ein »in Gott« ist (vgl. 19); es bringt, wie der Akkusativ signalisiert, ein dynamisches Verhältnis des Orientiert-Seins auf Gott hin zum Ausdruck. Oder – um ein zweites Beispiel zu nennen – die Artikellosigkeit von θεός in Joh 1,1c macht klar, dass der Logos hier Subjekt ist und dass kein Identitätsurteil von Gott und Logos gefällt wird, da sonst bei beiden der Artikel stehen müsste (dies hätte die Überlegungen auf S. 21 ff. durchaus stützen können, wobei die Aussage, dass 1,1c von der »Seinsweise Gottes [seinem Logos-Sein]« spreche, vgl. 26, philologisch recht unwahrscheinlich ist, da der Logos hier Subjekt und also Thema ist, nicht Gott). R. legt den Text des Joh überdies so aus, als ob er keine Entstehungsgeschichte hätte. Dies ist gewiss nicht illegitim und wird heute von manchen exegetischen Entwürfen ebenfalls propagiert. Doch das (historisch zu erkennende) Geworden-Sein dieses Evangeliums könnte Einblicke geben in dessen Tiefendimension; es könnte Einblick geben in die dem Joh vorangegangene Auseinandersetzung mit dem Nazarener, in deren Lauf interessante systematische Weichen gestellt und theologische Einsichten gemacht worden sind (interessant wären die unter dem Aspekt der relecture verstandenen Abschiedsreden).
Ein auffälliges Merkmal dieser theologischen Auslegung des Johannesevangeliums ist die systematische Perspektive, die hier durchwegs und konsequent eingenommen wird. Auch wenn da­mit bisweilen nicht mehr das Joh als solches beschrieben ist, sondern ein vom Joh gewiesener Weg in die Systematik gesucht wird, kommt diese Perspektive dem Text durchaus zugute. Sie bewahrt vor der historischen Banalisierung des Textes. Auffällig ist schließlich, dass das Joh an manchen Stellen mit Hilfe von theologischen Einsichten des Paulus erschlossen wird. Nicht nur führt dies zu interessanten Einsichten ins Joh (zum Beispiel wenn die leibhafte Seinsweise des Auferstandenen mit dem paulinischen Begriff des »soma pneumatikon« erfasst wird , vgl. 409, oder wenn der Gedanke in Joh 11,25b, dass dem an Christus Glaubenden das Leben verheißen ist, auch wenn er stirbt, so verstanden wird, dass »der Tod hier am Orte Jesu selber in Gottes Leben ›verschlungen‹, d. h. überholt ist«, vgl. 527 [mit ausdrücklichem Verweis auf 1Kor 15,54; 2Kor 5,4], oder wenn mit dem paulinischen πίστις ἐξ ἀκοῆς das johanneische Verhältnis von Glauben und Hören begriffen wird, 217). Dass die paulinische Perspektive manche Gedanken des Joh adäquat erschließt, ist darüber hinaus ein Hinweis darauf, dass das Joh trotz einer über weite Strecken ganz anderen Terminologie eine be­trächtliche Nähe zur paulinischen Theologie aufweist, über die man vor allem in der exegetischen Zunft noch intensiver wird nachdenken müssen.