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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

805–806

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stanley, Christopher D. [Ed.]

Titel/Untertitel:

Paul and Scripture. Extending the Conversation.

Verlag:

Atlanta: Society of Biblical Literature 2012. X, 357 S. = Early Christianity and Its Literature, 9. Kart. US$ 44,95. ISBN 978-1-58983-694-5.

Rezensent:

Dieter Sänger

Der Sammelband vereinigt zwölf Aufsätze, von denen das Gros aus Vorträgen erwachsen ist, die zwischen 2008 und 2010 anlässlich der SBL Annual Meetings im Seminar »Paul and Scripture« (Leiter: Chris­topher D. Stanley) gehalten wurden. Zusätzlich aufgenommen wurden drei weitere Beiträge und ein Text des Herausgebers, der protokollartig über die inhaltlichen Schwerpunkte und den Verlauf des Seminars informiert, positionelle Differenzen benennt sowie einige aus der Diskussion sich ergebende Forschungsdesi-derata formuliert (»What We Learned – and What We Didn’t«, 321–330).
Ähnlich wie im 2008 erschienenen Vorgängerband, der die Gruppenarbeit der Jahre 2005–2007 dokumentiert, stehen methodische und hermeneutische Problemaspekte im Zentrum des Interesses, vor allem solche, die zuvor ausgespart blieben: In welcher Hinsicht hat der soziokulturelle Hintergrund des Apostels seinen Umgang mit der Schrift beeinflusst? Beachtet Paulus den ur­sprünglichen Kontext der von ihm zitierten/alludierten Stellen? Was trägt der explizite oder implizite Rückgriff auf die Schrift außerhalb der sogenannten Hauptbriefe zur Klärung der Frage »Paulus und die Schrift« bei? Und schließlich: Welche Rolle spielt die Schrift im Gesamt der paulinischen Theologie?
Gegliedert ist der Band in vier Hauptteile. Jeweils drei Studien behandeln unter verschiedenen Aspekten die Themenfelder »The historical Context« (9–94), »Text and Context« (97–139), »Beyond the Hauptbriefe« (143–229), »Scripture in Paul’s Theology« (223–318).
Teil 1: Leonhard Greenspoon geht der Frage nach, ob Paulus aus dem Gedächtnis zitierte oder während des Diktats Schriftrollen benutzt habe. Jenseits dieser Alternative hält er es für wahrscheinlich, aufgrund seiner jüdischen Bildung und der durch sie erworbenen intimen Schriftkenntnis habe der Apostel über eine »memory bank« (22) verfügt, die er in der Briefsituation abrufen konnte (»By the Letter? Word for Word? Scriptural Citation in Paul«, 9–24). Anhand der in Gal 3f. und Röm 4 eingespielten Abrahamerzählung möchte Jeremy Punt zeigen, dass Paulus nicht primär auf die Schrift rekurriert, um seine Beweisführung zu autorisieren. Leitend sei vielmehr die Absicht, seine zumeist heidenchristlichen Adressaten in das kulturelle Gedächtnis des jüdischen Volkes einzuschreiben und sie dadurch zu vergewissern, dass sie »rather than the Jews were truly following in Abraham’s footsteps« (45) (»Identity, Memory, and Scriptural Warrant: Arguing Paul’s Case«, 25–53). Den Schriftgebrauch in Röm 11,1–7 deutet Bruce N. Fisk als eine Form von »rewritten Bible«, mit der Paulus an eine die Vorlagetexte paraphrasierende Auslegung anknüpfe, die auch bei Pseudo-Philo und Josephus begegne (»Paul among the Storytellers: Reading Rom 11 in the Context of Rewritten Bible«, 55–94).
Teil 2: Steve Moyise schlägt vor, zwischen Wortlaut und Kontext zu unterscheiden. Wohl nehme Paulus sich die Freiheit, den ursprünglichen Wortlaut der referierten Schriftstellen abzuändern, um sie argumentativ einsetzen zu können. Gemessen an den Maßstäben der historischen Kritik werde er damit dem Literalsinn nicht gerecht. Doch sei die Art und Weise seiner Lektüre »literal insofar as he is responding to the text in a way that the text authorizes« (»Does Paul respect the Context of His Quotations?«, 97–114: 109). Den u. a. an dieser Differenzierung sich entzündenden Widerspruch von Mitchell Kim, »Respect for Context and Authorial Intention: Setting the Epistemological Bar« (115–129), versucht Moyise in seiner Replik mit dem Hinweis zu entkräften, »that his (sc. Paul’s) theological outlook and rhetorical situation have significantly affected how he reads them (sc. the Scriptures)« (»Latency and Respect for Context: A Response to Mitchell Kim«, 131–139: 138).
Teil 3: Die hier versammelten Studien von E. Elisabeth Johnson, »Paul’s Reliance on Scripture in 1 Thessalonians« (143–162), Stephen Fowl, »The Use of Scripture in Philippians« (163–184), und Jerry L. Sumney, »Writing ›in the Image‹ of Scripture: The Form and Function of References to Scripture in Colossians« (185–229), erstrecken sich auf Textcorpora, in denen es oft schwerfällt, Schriftbezüge eindeutig zu identifizieren. Es ist aber zu viel des Guten, wenn mit ermüdender Konstanz das immer gleiche Problem, aufgrund welcher Kriterien es sich jeweils um ein Zitat, eine Anspielung oder um ein Echo handelt, lang und breit diskutiert wird. Auffällig ist, dass Richard Hays’ Intertextualitätskonzept (fast) ohne kritische Reserve als Leitplanke dient und die Entscheidung bestimmt. Im Ergebnis sind sich, was kaum überrascht, alle einig. Nicht nur die Hauptbriefe, sondern auch der 1Thess, Phil und Kol – ob dieser von Paulus oder einem Anonymus stammt, erscheint offenbar unerheblich – geben zu erkennen, in welch hohem Maße Sprache und Denken des Apostels den heiligen Schriften Israels verpflichtet sind.
Teil 4: Linda L. Belleville illustriert anhand ausgewählter Beispiele (1Kor 4,13; 9,9; 10,4; 2Kor 6,14; Gal 3,19), dass und wie das paulinische Schriftverständnis sich durch frühjüdische Auslegungstraditionen beeinflusst zeigt (»Scripture and Other Voices in Paul’s Theology«, 233–261). Ausgehend von Röm 10,16 skizziert Matthew W. Bates sein hermeneutisches Modell der »diachronic intertextuality«, das die spätere jüdische und frühchristliche Interpretation der in den Homologumena referierten Texte konzeptionell einbindet und ihm geeignet erscheint, neues Licht auf Paulus’ Umgang mit der Schrift zu werfen (»Echoes of Scripture in the Letters of Paul: A Proposed Diachronic Intertextuality with Romans 10:16 as a Test Case«, 263–291). Im Anschluss an moderne Übersetzungs- und Kommunikationstheorien vertritt Roy E. Ciampa die These, seine missionarischen Erfolge habe Paulus nicht zuletzt der Fähigkeit zu verdanken, die biblisch grundierte christliche Botschaft sprachlich und inhaltlich so zu vermitteln, dass sie unter Beibehaltung ihrer schriftbasierten Kernaussagen in neue lebensweltliche Kontexte transformiert und von den mehrheitlich nichtjüdischen Adressaten verstanden werden konnte (»Approaching Paul’s Use of Scripture in Light of Translation Studies«, 293–318).
Aufs Ganze gesehen hinterlässt der Sammelband einen gemischten Eindruck. Einerseits gewinnt er durch die Konzentration auf me­thodische Fragen an Profil. Dass sie schon im operativen Vorfeld der exegetischen Arbeit texthermeneutisch von leitender Relevanz sind, sollte nicht strittig sein. Die einzelnen Beiträge spiegeln je auf ihre Weise einen diskursiven Prozess, der nie abgeschlossen sein wird, solange es um die Sinnkonstitution von Texten, insbesondere um die wirklichkeitserschließende Funktion biblischer, hier neutestamentlicher Texte geht. Andererseits jedoch, und das ist die Kehrseite, kommen die theologischen Implikationen der paulinischen Schrifthermeneutik kaum zum Tragen. Trotz ihrer weitreichenden Bedeutung gerade auch in historischer und wirkungsgeschichtlicher Hinsicht erscheinen sie unterbestimmt oder geraten nahezu völlig aus dem Blick. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Jedenfalls wäre zu wünschen, dass das »Paul and Scrip-ture Seminar« im Rahmen der jährlichen SBL-Tagungen seine Fortsetzung findet, um dann den Schwerpunkt auf die mit dem Thema unmittelbar sich verbindenden theologischen Fragen zu legen.