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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

776–777

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Grözinger, Karl Erich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jüdische Kultur in den SchUM-Städten. Literatur – Musik – Theater.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2014. 343 S. m. Abb. = Jüdische Kultur, 26. Geb. EUR 56,00. ISBN 978-3-447-10137-0.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Der in deutscher und englischer Sprache verfasste Band veröffentlicht 16 Vorträge, die vom 1.–3. Oktober 2013 bei einer internationalen wissenschaftlichen Tagung – begleitet von kulturhisto-rischen Abendprogrammen – gehalten wurden. Wie der bereits erschienene Band: »Die SchUM-Gemeinden auf dem Weg zum Weltkulturerbe« soll auch der vorliegende Band den Anspruch der drei Städte Speyer, Worms und Mainz (SchUM) rechtfertigen, in die Verzeichnisse des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen zu werden. Der Band gliedert sich in fünf Teile. Nach einer Einführung des Herausgebers widmet er sich im ersten Teil der Darstellung der Stadt Worms in der Synagoge zu Mohilev in Weißrussland. Im zweiten Teil geht es um Erzählungsliteratur vom Mittelalter bis zur Neuzeit, im dritten um die Fortschreibungen dieser Erzähltradition im 19. und 20. Jh. Der vierte Teil enthält die Aufsätze über Brauchtum, Musik, Gesang und Theater, der fünfte Teil dokumentiert in knapper Form die Abendprogramme; eine Vorstellung der Autorinnen und Autoren beschließt den Band. Das Buch enthält sowohl farbige und schwarz-weiße Abbildungen als auch Noten sowie hebräische Zitate, die jeweils ins Deutsche oder Englische übersetzt sind.
In seiner Einführung reflektiert Karl Erich Grözinger die Bedeutung und Funktion der Erzähltradition für das Leben und für die Bedeutung einer Region. Anhand von Beispielen zeigt er, dass die gesamte aschkenasische Kultur, jüdisches Erzählen und Singen im Rheinland des Mittelalters eng mit der deutschen Volkskultur verwoben ist, dass sie zum Verstehen Deutschlands unerlässlich ist. Beispiel ist unter anderem die Legende vom Lindwurm, der der Stadt Worms ihren Namen gab, die nur in dem jüdischen Legendenbuch Ma’ase Nissim von Juspa Schammes, dem jüdischen Stadtschreiber von Worms (1604–1678), überliefert ist. Die Legende vom jüdischen Papst entstand in der Zeit, als das Martyrium (Kiddusch ha-Schem) als einziger Ausweg aus dem jüdischen Elend erschien. Grözinger zeigt die Veränderung dieser Legende im Lauf der Jahrhunderte bis zur letzten 1867 vom Mainzer Rabbiner Marcus Lehmann verfassten. Annette Weber analysiert in ihrem Beitrag: »Auf der Spur des Drachen: Zur Darstellung der Stadt Worms mit dem Lindwurm in der Synagoge von Mohilev in Weißrussland«, wie sich die Legende vom Lindwurm in Richtung Osten ausgebreitet hat. Sie stellt die Überlieferung der bildlichen Darstellung dieser Legende in der im 2. Weltkrieg zerstörten Holzsynagoge von Mohilev durch die Künstler El Lissitzky und Issachar Ber Ryback dar. Sie gibt den Inhalt der Legende wieder und verfolgt die Spur, die diese Legende in Worms und an anderen Orten hinterlassen hat. Insbesondere die Verknüpfung der Drachenlegende im Bild – der Drache ist vor der auf einem Hügel erbauten Stadt platziert – mit dem Lebensbaummotiv verbindet das Bild mit einem messianischen Motiv. So erzählt der Autor Johann Jakob Schudt in seinen Anfang des 18. Jh.s veröffentlichten »Jüdischen Merkwürdigkeiten«, eine Legende berichte, dass die Wormser Juden der Überzeugung seien, der Messias werde in Worms geboren.
Das zweite Kapitel eröffnet Eli Yassif, der mittelalterliche hebräische Literatur an der Tel-Aviv University lehrt, mit einem Aufsatz über die »Local Identity«, die Erfahrung der drei SchUM-Städte durch ihre Bewohner als jüdischen Lebensraum. Simon Neuberg befasst sich mit dem Bild der SchUM-Städte in der älteren jiddischen Literatur. An Beispielen aus dem Bereich der Lyrik und der Geschichtsschreibung (Bericht von 1743 über den »Fettmilch-Aufstand«) zeigt er, dass die SchUM-Städte in der Blütezeit der westjiddischen Literatur bereits große Berühmtheit besaßen. Ephraim Shoham-Steiner beschäftigt sich mit dem Geschäftsleben, wobei er auch solche Geschäfte bespricht, die sich am Rande der Legalität bewegen, während David Rotman schildert, wie man die dabei entstehenden Ängste in Geister- und Monstergeschichten bewältigt. Die Frankfurter Judaistin Lucia Raspe untersucht Quellen und Absichten des »Sefer Majse Nissim« des Juspa Schammes. Nathanael Riemer analysiert das Verhältnis von Juden und Christen in dieser Quelle sowie das Selbstverständnis der Wormser jüdischen Gemeinde als aschkenasisches Jerusalem. Seine Untersuchung gliedert er in einem zweiten Teil in verschiedene Interaktionsbereiche. Keine der 25 Geschichten, die das Buch enthält, hat Wirtschaftsbeziehungen zum Thema, sie kommen allenfalls am Rande vor. Zentraleres Thema sind religiöse Konflikte; so wird in einer Erzählung mitgeteilt, dass die jüdische Gemeinde in Worms bereits seit der Zerstörung des ersten Tempels (587 v. Chr.) existiert, somit mit der Kreuzigung Jesu nichts zu tun haben kann. Sexuelle Beziehungen zwischen Juden und Christen werden thematisiert, vor allem wird versucht, die Verführung jüdischer Mädchen erzählerisch zu bewältigen und ihre Ehre gegebenenfalls wiederherzustellen. Der dritte Teil des Aufsatzes widmet sich der Darstellung christlicher Gruppen, vom Magistrat und Bürgermeister über Klerus und Adel bis zum Pöbel und den Studenten. Interessant ist, dass im Zusammenhang der Erzählung Nr. 10 (die Zaubergans) berichtet wird, dass Wormser Bürger nach dem Pogrom von 1349 aus Mitleid Juden aufgenommen hätten, während die einzige Gruppe, die nur negativ dargestellt wird, die der Studenten ist. Die Identifikation mit Worms findet in dem Buch des Juspa Schammes auch dadurch starken Ausdruck, dass alle Reiseunternehmungen ins Heilige Land als Unternehmungen des Scheiterns, der Krankheit und des Todes beschrieben werden. Der Herausgeber, Karl Erich Grözinger, analysiert im darauf folgenden Aufsatz in weiteren Erzählungen und Quellen die Städtebilder von Speyer, Worms und Mainz, die sowohl als Orte der Verfolgung und des Leids als auch – besonders in den Gründungslegenden – als Orte des Stolzes vorkommen. Besonders die Fülle wiedergegebener Quellen aus der Erzähltradition zu den drei Städten und ihre Auswertung macht diesen Aufsatz zu einem der interessantesten und wertvollsten innerhalb der Zusammenstellung.
Im dritten Kapitel geht es um die Fortschreibungen der älteren Erzähltradition im 19. und 20. Jh. Gabriele von Glasenapp zeigt an einem Roman von Mirjam Pressler durch »eine Art Tiefenbohrung« die Bezüge der von der Schriftstellerin in Prag angesiedelten Geschichte zu den SchUM-Gemeinden. Die Autorin zeigt auf, dass Fortschreibungsprozesse oft kumulativ sind und dass Fortschreibung auch mit Transformation verbunden ist, wie sie möglicherweise schon in Juspa Schammes Sammlung vorliegt, die ja durch seinen Sohn Elieser herausgegeben wurde, wohingegen das Original nicht erhalten ist. Avidov Lipsker untersucht die Transformation der Wormser Gründungslegende im Werk des Literatur-Nobelpreisträgers S. Y. Agnon. Für Agnon spiegeln die Geschichten die Not des Exils und führen zum Zionismus. Josef Bamberger analysiert die Transformation vom Kiddusch ha-Schem im 20. Jh. Das in einer Quelle des 13. Jh.s erzählte Martyrium des Rabbi Ammon findet durch den Aufstieg des Helden in den Himmel ein Ende, das zeigt, dass sein Tod nicht nutzlos bleibt. Daraus wird im Werk David Bergelsons eine Verklärung des Todes für das Volk Israel des 20. Jh.s. Schließlich beschäftigen sich die Aufsätze von Ephraim Kanarvogel, Eliyahu Schleifer, Elisabeth Hollender, Diana Marut und Evi Michels mit dem Leben in Brauchtum, Musik und Theater. Für Mainz und Worms gleichermaßen interessant ist die Fokussierung von Eliyahu Schleifer auf den Maharil (Jakob Levi Molin), der ca. 1365 in Mainz geboren und 1427 in Worms begraben wurde. Die lokal gebundene und doch darüber hinausweisende Zionspoesie beschreibt Elisabeth Hollender in eingehender Analyse. Diana Matut ediert sozusagen Klagelieder (Kinot) innerhalb des westjiddischen Liedguts über den Untergang von Worms und analysiert dies in einem historischen, literaturgeschichtlichen und musikgeschichtlichen Kommentar. Evi Michels setzt sich mit jiddischen Purimspielen in der Liedersammlung des 1632 in Worms verstorbenen Eisik Wallich auseinander, sie analysiert auch mögliche Beziehungen zu christlichen Theaterspielen gleicher Zeit.
Der Sammelband bietet einen tiefen Einblick in die jüdische Er­zähltradition und ihre Fortschreibung vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Im Fokus liegen die drei SchUM-Städte, besonders Worms.