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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

720-722

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Graulich, Markus, u. Martin Seidnader [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zwischen Jesu Wort und Norm. Kirchliches Handeln angesichts von Scheidung und Wiederheirat.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2014. 255 S. = Quaestiones disputatae, 264. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-451-02264-7.

Rezensent:

Hanns Engelhardt

Ober- und Untertitel des hier anzuzeigenden Sammelbandes zeigen die allgemeine Problematik an, in die ein konkretes Einzelproblem gestellt werden soll.
Was hat Jesus tatsächlich über Ehe und Ehescheidung gesagt, und was hat er mit dem, was er – wirklich oder wahrscheinlich – gesagt hat, gemeint? Bei der Beantwortung dieser Frage ist zu beachten, dass Jesus zu Juden spricht, nicht zu Getauften, und dass er sich – nach dem Zeugnis der Evangelisten – auf die Schöpfung bezieht (»Am Anfang – also supralapsarisch – war es nicht so«). Seine Worte gelten also nicht nur für Christen, sondern für alle Menschen gleichermaßen, also auch für die, deren Ehe die römisch-katholische Kirche nicht für absolut unauflöslich hält – und sind sie als rechtsverbindliche Anordnungen für diese gesamte Weltzeit gemeint?
Die Herausgeber beginnen ihr Vorwort mit dem etwas einschüchternd wirkenden Satz: »Was dem Wort des Herrn entspricht und dem Heil der Menschen dient, verliert unter modernen Bedingungen nicht seine Gültigkeit.« Gemildert wird dieser Eindruck immerhin durch den späteren Hinweis, es gehe »im Letzten um die Lebbarkeit und Lebensförderlichkeit kirchlicher Normen«. Da eine angemessene Würdigung aller Beiträge aus Raumgründen un­möglich ist, beschränkt der Rezensent sich auf das, was ihm besonders wichtig erscheint.
Dazu gehören vor allem die Ausführungen des Mitherausgebers Markus Graulich. Von einem Rotarichter wird man keine revolutionären Ideen erwarten. Dementsprechend geht er von der hergebrachten Auffassung des Kirchenrechts als teils göttliche Gebote umsetzend und deshalb unveränderlich und teils »selbständig« und daher anpassbar aus. Zu Can. 915 CIC zitiert er den Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte, nach dem die Anwendung des darin enthaltenen Verbots der Kommunionzulassung auf wiederverheiratete Geschiedene sich »aus dem göttlichen Gesetz ab(leitet)« und deshalb vom kirchlichen Gesetzgeber nicht geändert werden darf. Ist aber gar nicht so schlimm, könnte man meinen, denn G. weist ausdrücklich darauf hin, dass das keinen Ausschluss aus der Kirche bedeutet (den gibt es überhaupt nicht), und die Betroffenen dürfen noch eine ganze Menge, z. B. an der Messe teilnehmen, wenn auch ohne Kommunionempfang; sie können auch wieder zugelassen werden, wenn sie »aus ernsthaften Gründen […] der Verpflichtung zur Trennung nicht nachkommen können« – vorausgesetzt sie schlafen nicht miteinander. (Der Rezensent muss bekennen, dass ihm diese schmale – wenn auch freilich nicht unwichtige – Aussparung aus der zweitehelichen Gemeinschaft, die noch dazu nicht nach außen dringt – und deren Übertretung vermutlich durch Beichte und Absolution geheilt werden kann – nicht einzuleuchten vermag.) Dass der Ausweg über die Nichtigerklärung tatsächlich und theologisch steinig ist, erkennt G. wohl; eine ausdehnende Anerkennung des Irrtums über das Wesen der Ehe, insbesondere bei mangelnder Kirchlichkeit dürfte daran wenig ändern. Nach alledem überrascht es fast, dass G. als Ausweg die Dissimulation vorschlägt, also das bewusste Absehen von dem an sich angezeigten Ausschluss von der Kommunion im Einzelfall.
Einen Schritt weiter geht der Neutestamentler Thomas Söding. Auch für ihn ist Ausgangspunkt, dass die Aussagen Jesu rechtsverbindliche Weisungen für die Kirche sind und nicht unter dem Gesichtspunkt einer durch die Naherwartung eingegrenzten Interimsethik relativiert werden können. Besonders wichtig er­scheint ihm die Anknüpfung Jesu an die Schöpfungsordnung. Er weist aber darauf hin, dass schon im Neuen Testament Ansätze zu einer Weiterentwicklung unter dem Gesichtspunkt der praktischen Lebbarkeit erkennbar werden. Kritisch sieht er die in Ehedogmatik und Kirchenrecht obwaltende Tendenz, die Unterschiede im neutes-tamentlichen Zeugnis durchgehend zu harmonisieren. In den matthäischen »Unzuchtsklauseln« und dem Pri­vilegium Paulinum findet er ungenutzte Ansatzpunkte für eine Adaption der grundsätzlichen biblischen Aussagen an die konkreten Situationen. Im Neuen Testament werde »zwar alles getan […], dass es nicht zu einer Auflösung von Ehen kommt«; es werde aber »in Ehesachen nicht expliziert, was zu tun ist, wenn eine Ehe geschieden ist und ein Geschiedener oder eine Geschiedene eine neue Ehe eingegangen ist«. Mit konkreten Vorschlägen hält S. sich als Neutestamentler verständlicherweise zurück.
Noch weiter gehen zu wollen scheint die Pastoraltheologin Maria Widl. Für sie ist die herkömmliche »christliche Ehe« »unter heutigen Bedingungen« »eine prophetische Lebensform« und »kann nicht als Normalfall erwartet werden«. Deshalb plädiert sie dafür, in der Ehepastoral »[a]n die Stelle der Ermutigung zum Schritt der sakramentalen Ehe […] die Warnung davor« zu setzen. Sie hält es für möglich, auch andere »Lebensgemeinschaften und Partnerschaften, die keine Ehe eingehen können«, kirchlich zu segnen und damit doch wohl als christliche Möglichkeit anzuerkennen. Ob die Kongregation für die Glaubenslehre sich damit wird anfreunden können, darf bezweifelt werden.
In die grundsätzlichen Fragen dringt vor allem Dominik Markl mit seiner Analyse der Äußerungen Jesu ein, in denen er ein »schöpfungstheologisches Ideal« findet, das einerseits nicht nur äußerliche Stabilität der ehelichen Beziehung fordert, »aber auch nicht zur Erbarmungslosigkeit gegenüber Menschen (verpflichtet), die mit ihrer Ehe gescheitert sind.«
Als ein Zeichen ökumenischer Aufgeschlossenheit ist es zu werten, dass das Buch sowohl einen evangelischen (A. Käfer) als auch – aus der Feder eines ausgezeichneten Kanonisten der jüngeren Generation – einen orthodoxen (A. Anapliotis) Beitrag enthält. Die beiden Beiträge könnten freilich verschiedenartiger nicht sein. Anapliotis bietet eine solide Darstellung der Grundsätze und vieler Einzelheiten des orthodoxen Kirchenrechts über Ehe, Ehescheidung und Wiederverheiratung, ohne auf den Aufweis der theologischen Grundlagen zu verzichten. Käfer geht ganz anders vor. Aufgrund der lutherischen und insbesondere der Lutherschen Ehetheologie kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Ehe als weltliche Ordnung in die Kompetenz des Staates falle, dem die Kirche – hier bezieht K. auch Schleiermacher ein – auch insoweit »Gehorsam schuldet«. Ob diese Gehorsamspflicht allerdings so weit geht, dass die Kirche jede vom Staat erlaubte zweite, dritte oder weitere Ehe kirchlich trauen muss, dafür hätte man sich eine etwas eingehendere Begründung gewünscht, die auch genauer in den Blick nehmen müsste, was kirchliche Trauung bedeutet und impliziert.
Man muss wohl selbst Anglikaner sein, um zu be­dauern, dass die Herausgeber der anglikanischen Position nicht einige Seiten eingeräumt haben. Aus der geringen Zahl der in Deutschland lebenden Anglikaner sollte nicht vorschnell geschlossen werden, dass die drittgrößte Kirchenfamilie der Welt keinen eigenen Beitrag zur Problematik leisten könnte, wenn auch – zugegebenermaßen – die »many faces of Anglicanism« es manchmal schwierig machen mö­gen, ihn zu erkennen. Das Buch ist ein auch ökumenisch wichtiger Beitrag, der die Bewegung sichtbar macht, in der das Denken in der römisch-katholischen Kirche sich befindet. Wie dieses Denken sich auf die Praxis auswirkt, bleibt abzuwarten.