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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

694-696

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Koch, Philipp

Titel/Untertitel:

Gerechtes Wirtschaften. Das Problem der Gerechtigkeit in der Wirtschaft im Lichte lutherischer Ethik.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2012. 341 S. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-89971-922-2.

Rezensent:

Svend Andersen

Die 2007 angenommene Tübinger Dissertation von Philipp Koch untersucht, wie der Titel besagt, die Möglichkeiten, für den Bereich der Wirtschaft eine heutige Gerechtigkeitskonzeption aus lutherischer Perspektive zu formulieren. Es gelte, wie der Vf. im Vorwort sagt, die Gerechtigkeit als theologischen Ausgangspunkt Martin Luthers mit gegenwärtigen Diskussionen über die Wirtschaft zu­sammenzubringen (10). Anknüpfend an das klassische Buch Emil Brunners wird in der Einleitung Gerechtigkeit als »Schlüsselbegriff der gesamten (Wirtschafts-)Ethik« deklariert (11). Das Buch soll die folgenden Fragen beantworten: »Wie kann Luthers Verständnis vom gerechten Wirtschaften mit dem heutigen Verständnis vom gerechten Wirtschaften in Einklang gebracht werden? Inwieweit prägt er das heutige Verständnis?« Es wird die These aufgestellt, dass Gerechtigkeit in der Wirtschaft von der Leistungs-, Bedürfnis- und Chancengleichheit her verstanden werden soll (13 f.).
Nach der Einleitung folgen vier Hauptteile. Der erste Hauptteil stellt die Entwicklung der Wirtschaft von der Antike bis zur Gegenwart dar, wobei bei allen Etappen jeweils die reale ökonomische Situation und die Wirtschaftstheorien getrennt behandelt werden. Unter den Theorien werden beispielsweise diejenigen von Smith, Ricardo und Marx dargestellt sowie die neueren von Pareto und Keynes. Zu den Hintergründen der heutigen Wirtschaft wird etwa auf die Kriegswirtschaft des Nationalsozialismus und den amerikanischen New Deal hingewiesen. Von besonderem Interesse ist natürlich die gegenwärtige Situation, die durch die Wiedervereinigung Deutschlands, die Entwicklung der Europäischen Union und nicht zuletzt die Globalisierung gekennzeichnet ist. Als Charak-teristika der heutigen Wirtschaft werden u. a. die schwächere Position der Politik in Bezug auf die Wirtschaft und das auf kurzfristigen Gewinn orientierte Agieren der großen Fonds hervorgehoben. Schon als Abschluss des ersten Hauptteils wird der grundlegende Gesichtspunkt formuliert, demzufolge die freie Marktwirtschaft einer durch eine globale Rahmenordnung gesicherten sozialen Komponente bedürfe. Schon vorher ist die diesbezügliche Vorbildrolle der sozialen Marktwirtschaft hervorgehoben worden.
Der zweite Hauptteil enthält eine nach der gleichen Struktur wie im ersten Teil aufgebaute Darstellung von einschlägigen Theorien der Gerechtigkeit – von der Antike und der Bibel bis zur Gegenwart. Wie schon in der Einleitung angekündigt, wird von den neueren theologischen Theorien der Gerechtigkeit diejenige E. Brunners besonders hervorgehoben. Auf philosophischer Seite wird na­türlich die wohl inzwischen klassische Konzeption von John Rawls präsentiert, aber auch die Auffassung von Michael Walzer, der später eine besondere Rolle zugeteilt wird.
In einer abschließenden prinzipiellen Überlegung wird gegen M. Honecker eine allgemeine Basis von Gerechtigkeitsvorstellungen behauptet, gleichzeitig aber auch das Zugrundeliegen von subjektiven Wertvoraussetzungen eingeräumt. Es wird wieder angedeutet, dass die Gerechtigkeit der modernen Marktwirtschaft als komplexer Begriff konzipiert werden müsse, der die Elemente Chancen-, Verfahrens-, Leistungs- und Bedürfnisgerechtigkeit umfasst. Und es wird wieder hervorgehoben, dass dieser komplexe Begriff der Ge­rechtigkeit die soziale Marktwirtschaft konstituiere.
Im dritten Hauptteil geht es um Luthers Auffassung vom gerechten Wirtschaften. Der Vf. erinnert daran, dass sich der Konflikt mit der römischen Kirche gerade an dem Verhältnis von Theologie und Wirtschaft entzündet hat (Ablass). Im Abschnitt über die wirtschaftliche Situation der Zeit wird präzisiert, dass die Verbrüderung der katholischen Kirche mit dem entstehenden Kapitalismus Luthers Reformation hervorgerufen habe. Luthers Verständnis von Wirtschaft wird dargestellt anhand der Begriffe Arbeit, Eigentum, Ar­mut, Zins und Wucher. Zu den letzteren, kontroversen Fragestellungen gibt der Vf. eine eingehende und erhellende Darstellung.
Als Schwerpunkte in Luthers Auffassung vom gerechten Wirtschaften hebt der Vf. das Menschenbild und die Zwei-Reiche-Lehre hervor. Es wird der Zusammenhang von Rechtfertigung und Nächstenliebe hervorgehoben, und die Zwei-Reiche-Lehre wird so dargestellt, dass ein Christ wohl weltlich leben – z. B. wirtschaften–, nicht jedoch weltliche Tätigkeiten als Selbstzweck betrachten kann. Was nun spezifisch Luthers Begriff der Gerechtigkeit betrifft, meint der Vf., dass dieser die drei Aspekte der zivilen Gerechtigkeit, der Glaubens- und der ethischen Gerechtigkeit umfasse, wobei Letztere die besondere Gesetzeserfüllung des Gläubigen bedeute. In einer anderen Zusammenfassung rechnet der Vf. mit drei Kriterien Luthers für das gerechte Handeln: das Gebot der Nächstenliebe, die Goldene Regel und die Billigkeit. Gerechtes Wirtschaften bedeute grundsätzlich, dass der Handelnde sich an seinem Nächs­ten orientiere.
Etwas überraschend behauptet der Vf., Luthers Einfluss mache sich in verschiedener Weise im heutigen Wirtschaftsverständnis geltend. Er habe das weltliche Leben emanzipiert; er betrachte wie Adam Smith den Eigennutz als Triebfeder für das wirtschaftliche Handeln. Und er verlange begrenzende Eingriffe in das Wirtschaftsleben von Seiten des Staates. Luthers Auffassung vom ge­rechten Wirtschaften könne jedoch nicht bestimmten ökonomischen Theorien zugeordnet werden.
Damit ist der vierte und letzte Hauptteil vorbereitet, der »Kriterien einer gerechten Marktwirtschaft aus lutherischer Perspektive« formulieren soll. Es geht hier darum, die Imperative einer christlich-lutherischen Ethik mit den »Indikativen« der wirtschaftlichen Realität zu vereinen. Dies ist laut Vf. am besten bei der sozialen Marktwirtschaft möglich, die sowohl die ökonomische Struktur der Gesellschaft sichere als auch die Menschenwürde jedes Einzelnen achte. Diese Möglichkeit der Vereinbarkeit scheint jedoch von einer Reihe Begriffsgegensätze ausgeschlossen zu sein: Imago Dei – homo oeconomicus, Nächstenliebe – self-interest, Gleichheit – Freiheit, Gott – Mammon, Solidarität – Wettbewerb. Die Gegensätze sind jedoch nach Meinung des Vf.s nicht unüberwindbar, indem z. B. die Nächstenliebe wie auch die Goldene Regel die Selbstliebe ethisch anerkenne und die soziale Marktwirtschaft als institutionalisierte Form der Solidarität angesehen werden könne.
Der Vf. sieht jedoch auch einige problematische Aspekte der heutigen Marktwirtschaft: Sie habe negative externe Effekte – z. B. in Form von Umweltbelastung; sie habe die dominierende Rolle des Staates übernommen – und das Ideal eines transparenten, vollständige Information gewährenden Marktes sei unrealisierbar. Der Vf. bleibt jedoch bei seiner These: »Die soziale Marktwirtschaft ist die angewandte und institutionalisierte Umsetzung des Doppelgebotes der Liebe unter der Bedingung der freien Marktwirtschaft!« (307) Eine Hauptaufgabe der Gegenwart bestehe sozusagen darin, das Modell der sozialen Marktwirtschaft durch Etablierung einer globalen Rahmenordnung auf die weltweite Ökonomie auszudehnen.
Der Vf. hat ohne Zweifel ein sehr nützliches Buch vorgelegt, in dem er kompetent die Grundzüge der gegenwärtigen globalisierten Wirtschaft darstellt und in ihren historischen Kontext einordnet. Es lassen sich aber zumindest drei Mängel anführen. 1. Es fehlt der Darstellung der ethischen Grundlage von Luthers Auffassung des »gerechten Wirtschaftens« die systematische Schärfe, indem der Zusammenhang von Zwei-Reiche-Lehre, Nächstenliebe und weltlicher Gerechtigkeit unklar bleibt. Man wundert sich z. B. über die Nichtbeachtung der Schrift De duplici iustitia. 2. Trotz der sehr ausführlichen Übersicht über Gerechtigkeitstheorien seit der An-tike erscheint der vom Vf. verteidigte Begriff nicht deutlich. Die Kritik an der sehr einflussreichen Theorie von John Rawls überzeugt nicht, was darin begründet sein kann, dass der Vf. nicht dessen spätere Arbeiten berücksichtigt. 3. Die freie Marktwirtschaft erscheint in einem sehr positiven Licht, das etwa die sehr großen Ungleichheiten in den liberalen Gesellschaften zurücktreten lässt. Auch scheint es etwas selbstwidersprüchlich, wenn der Vf. eine politisch instituierte Rahmenordnung der globalen Ökonomie be­fürwortet, andererseits aber die Umkehrung des Machtverhältnisses von Politik und Wirtschaft feststellt.