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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

670-671

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Brakelmann, Günter

Titel/Untertitel:

Martin Luther – Beiträge zu seinem Verständnis.

Verlag:

Kamen: Hartmut Spenner Verlag 2012. 308 S. = Schriften der Hans Ehrenberg Gesellschaft, 19. Kart. EUR 22,80. ISBN 978-3-89991-136-7.

Rezensent:

Christopher Spehr

»Luther, eine unzeitgemäße Provokation«, so lautet der Titel eines Beitrags aus dem vorliegenden Band. Diese unzeitgemäße Provokation, die Luther für den Autor Günter Brakelmann 1983 darstellte, hat auch gut 30 Jahre später nichts an Brisanz eingebüßt. Daher versammelt der emeritierte Bochumer Professor für Christliche Soziallehre und neuzeitliche Geschichte eine Reformationspredigt und 15 seit 1981 gehaltene Vorträge zu Luthers Theologie und zur Lutherrezeption in einer eigenständigen Schrift. Mit seinen Texten will B. zu einem kritischen Umgang mit Luther anregen und in der »Lutherdekade« sowohl gegen eine Luthervergessenheit als auch gegen eine unkritische Lutherverehrung Position beziehen. Hierfür nimmt er u. a. zeitgenössische gesellschaftliche Herausforderungen in den Blick und verschränkt diese mit Luthers theologischer Ethik, deren Potential und Grenzen für Politik, Wirtschaft und Bildung er zugleich aufzeigt. Zudem reflektiert B. exemplarisch, welche politischen Inanspruchnahmen Luther im neuzeit-lichen Protestantismus des 19. und 20. Jh.s erfuhr und worin diese unterschiedlichen Lutherbilder wurzelten.
Die allesamt anregenden Vorträge wurden zum größten Teil für die Evangelische Stadtakademie Bochum konzipiert und sind als solche auch identifizierbar. Aufgrund des Zielpublikums, das in erster Linie in der Erwachsenenbildung verortet sein dürfte, ent-las­tet sich B. von dem Anspruch, wissenschaftliche Forschungsbeiträge vorlegen zu müssen. Folglich fallen auch die verschiedenen Monenda, die von fast durchgängig fehlenden Zitatnachweisen bis hin zu grammatikalischen und inhaltlichen Ungenauigkeiten reichen (die Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« gehört zu den sogenannten »reformatorischen Hauptschriften«, anders: 203), nicht weiter ins Gewicht. Für den universitären Gebrauch eignen sich die formal leider nicht dem wissenschaftlichen Standard entsprechenden Texte daher nur mit Einschränkungen.
Untergliedert sind die Beiträge in drei Teile. In dem ersten Teil präsentiert B. fünf Schriften, die allesamt um das Thema Obrigkeit und Politik kreisen: die Adelsschrift (1520), die Magnifikatauslegung (1521), die Obrigkeitsschrift (1523), die Kriegsleuteschrift (1526) und die Auslegung des Psalms 101 (1535). Die Texte, die B. nach verschiedenen populären Lutherausgaben zitiert, werden inhaltlich wiedergegeben und kommentiert. Der Leser soll hierdurch angeregt werden, Luthers Schriften selbst in die Hand zu nehmen. Allerdings hätte – bei diesem lobenswerten Anliegen – B. hinsichtlich der Zielgruppe ein paar weiterführende Anmerkungen über nützliche Lutherausgaben bieten dürfen.
Der zweite Teil befasst sich mit »Vorträge[n] zu einzelnen Themen bei Luther«, der dritte mit »Lutherbilder[n]«. Alle Beiträge dieser zwei Rubriken (warum nicht auch der ersten?) sind mit der Jahreszahl ihres Entstehens versehen, so dass sich ein zeitgenössisches Bild gesellschaftlicher Probleme und deren Bezug auf Luther rekonstruieren lässt, welches teilweise selbst mittlerweile historisch ist. So erstaunt es nicht, dass Beiträge aus dem Jahr 1981 (»Das marxistische Lutherbild«, 213–227) und 1983 (»Revolutionäre Elemente der Theologie Luthers und ihre Konsequenzen«, 135–153) sich mit der marxistischen Lutherdeutung anhand der im September 1981 in der DDR erschienenen »Thesen über Martin Luther« kritisch befassen. Im Hinblick auf die Debatten um das Reformationsjubiläum 2017 lassen sich die Beiträge »Luther und Hitler« (275–308) von 2008 und »Luther und die Juden« (176–202) aus dem Jahr 2011 einordnen. Beide sehr lesenswerte Darstellungen, von denen erstere aus dem reichen Forschungsschatz B.s zur Geschichte des Nationalsozialismus im Ruhrgebiet gearbeitet und letztere durch wertvolle Hinweise auf die Studien B.s zum neuzeitlichen Antisemitismus gerahmt ist, ordnen umsichtig die Quellen, elementarisieren wesentliche Aussagen und regen zur Weiterarbeit an. So stellt B. im Anschluss an die Auseinandersetzung mit der Judenthematik beispielsweise die Frage, wie Luthers jüngere und ältere Judenschriften in den folgenden Jahrhunderten bis hin zum Na­tionalsozialismus gewirkt hätten. Andere Themen, an denen sich weiterzuarbeiten lohnt, sind die Fragen, wie gegenüber der vielfach zu konstatierenden Hitlerbegeisterung 1933 der Prozess der Desillusionierung evangelischer Christen über die Kirchen- und Religionspolitik Hitlers vonstatten ging und warum »die politische Gefolgschaft des Führers bis zum bitteren Ende mehrheitlich im deutschen Protestantismus ungebrochen blieb.« (304)
Die Beiträge im dritten Teil bieten wertvolle kirchenhistorische Miniaturen, von denen neben »Luther und Hitler« vornehmlich die Aufsätze zum »Lutherjubiläum 1883« (228–242; mit Hinweisen auf ausgewählte Fachliteratur) und »Lutherjahr 1917« (250–274) hervorzuheben sind. Die Beiträge im thematischen zweiten Teil kreisen um »Rechtfertigung und Leistung« (123–134), »Arbeit, Beruf und Wirtschaft bei Luther« (154–160) sowie »Die 10 Gebote als Maßstäbe einer Lebensordnung in Verantwortung vor Gott und den Menschen« (161–175). An diesen nachdenkenswerten Beiträgen erweist sich einmal mehr B.s feine Beobachtungsgabe sowie seine Kunst, Luthers Theologie behutsam nachzuzeichnen. Als theologische Zentralaussage betont B., der ein Schüler Gerhard Ebelings ist, wiederholt die im Freiheitstraktat von 1520 formulierte Lebensweise eines Christenmenschen: »Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten, in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe.« (134 u. ö.) Luther bleibt eine unzeitgemäße Provokation – auch im Blick auf die wachsende Lutherbeschäftigung und Luthervermarktung der nächsten Jahre. In diesem Horizont erinnert B. an das Wesentliche: »Was man auch zum Thema erheben mag […], im […] Zentrum eines christlichen Sich-Einlassens auf Luther muss Luther als Theologe stehen. Er selbst hat sich nie anders verstanden denn als Ausleger der Heiligen Schrift und als Prediger des Evangeliums.« (248)