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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

644-646

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hunt, Steven A., Tolmie, D. Francois, and Ruben Zimmermann[Eds.]

Titel/Untertitel:

Character Studies in the Fourth Gospel. Narrative Approaches to Seventy Figures in John.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XVII, 724 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 314. Lw. EUR 194,00. ISBN 978-3-16-152784-5.

Rezensent:

Klaus Scholtissek

Dieser Sammelband ist ein Glücksfall für die Johannesforschung: Die narrative Analyse und Interpretation johanneischer Texte hat sich vielfältig bewährt und ihre Leistungsfähigkeit nachgewiesen. Hinweise auf die einschlägige Sekundärliteratur zur narrativen Auslegung johanneischer Texte finden sich im Band durchgehend ausführlich und aktuell. In dem durchgehend englischsprachigen Band wird ein Kernbereich narrativer Forschung erstmalig in dieser umfassenden Weise angegangen: Mit 70 Figuren, die in 62 (un­terschiedlich langen) Beiträgen von insgesamt 44 Autoren und Autorinnen vorgestellt werden, wird die gesamte Bandbreite jo­hanneischer Akteure vorgestellt: in der großen Mehrheit namentlich genannte Einzelpersonen (z. B. Johannes der Täufer, Andreas, Simon Petrus), sodann nicht namentlich genannte Personen, verschiedene Menschengruppen (z. B. »die Juden«, die Pharisäer, die Priester und Leviten, »die Menge«), die Engel, der Satan und personifizierte Mächte (z. B. »der Kosmos«). Hilfreich ist die Aufnahme gerade auch der sogenannten »kleinen Figuren« in den Band, die oft namenlos (und übersehen) dennoch eine bedeutende Rolle haben. Dabei geht es jeweils um die johanneische Darstellung von Personen(-gruppen) bzw. Akteuren (= characters bzw. characterization) im jeweiligen johanneischen Erzählkontext – und zwar sowohl des unmittelbaren Mikrokontextes (der Perikope) als auch des Makrokontextes (des ganzen Evangeliums): Wie agieren die johanneischen Charaktere? Wie interagieren sie? Mit welchen Wertungen und Zuschreibungen werden ihre Aktionen und Reaktionen versehen? Welche Interessen verfolgt der Erzähler des Evangeliums mit den jeweiligen Profilierungen? Wie werden die Leser und Leserinnen einbezogen, angesprochen, gelenkt? Bewusst ausgenommen wurden »articles related to the deity« (XIII): Gott/Vater, Jesus, Heiliger Geist/Paraklet.
Die Herausgeber des Bandes haben ihren Autoren keine detaillierte Methode vorgeschrieben: »While we insisted on a literary approach to the characters in John (as opposed to, for example, a strictly historical approach), we did not prescribe a certain method« (XI). Sie selbst bieten jedoch einen konzisen Forschungsüberblick zur Methodendiskussion: »An Introduction to Character and Char­acterization in John and Related New Testament Literature« (1–33) mit einer detaillierten Tabelle aller Textvorkommen johanneischer characters (34–45).
Da es unmöglich ist, alle Beiträge auch nur vorzustellen, ge­schweige denn zu diskutieren, seien einige Beispiele in gebotener Kürze herausgegriffen: Catrin H. Williams zeigt auf, dass Johannes der Täufer im JohEv als »connecting link – on the threshold – be-tween the heavenly and the earthly, the eternal and the historical, the old and the new« (48; vgl. 60) fungiert. Die Deutung »der Welt (kosmos)« im JohEv bei Christopher W. Skinner gerät in den knappen Ausführungen (61–79) unterkomplex und viel zu dualistisch. Erheblich umsichtiger und differenzierter geht Ruben Zimmermann in seinem freilich deutlich längeren, die Forschung weiterführenden Beitrag »›The Jews‹: Unreliable Figures or Unreliable Narration« (71–109) vor: Er zeigt auf, dass die Vielstimmigkeit der Forschermeinungen zur Frage nach der Identität und Deutung »der Juden« im JohEv im Text selbst angelegt ist. Der Erzähler selbst bleibt unentschieden, vage, unsicher und fordert damit seine Leser und Leserinnen heraus. Auch mehrere andere Autoren dieses Bandes verweisen auf die vom Erzähler beabsichtigte ambivalente Charakterisierung bestimmter Figuren insbesondere in Relation zu Jesus (vgl. nur Susan E. Hylen zu den »Jüngern«; 214–227; R. Alan Culpepper zu Nikodemus; 249–259).
Im JohEv finden sich Personen, die in der Begegnung mit Jesus über Missverständnisse hinweg von Jesus selbst zum lebendigen und tätigen Glauben geführt werden (u. a. die Samariterin; vgl. den Beitrag von Harold W. Attridge; 268–281). Michael Labahn stellt in seinem Beitrag zu Petrus (151–167) heraus, dass es dem Evange-listen nicht um die Rekonstruktion der psychologischen Entwicklung dieser herausgehobenen Figur in der Jüngerschaft Jesu geht, sondern Petrus eng verbunden mit der nachösterlichen Hermeneutik gedeutet wird: Erst nachösterlich mit dem Wirken des Parakleten und dem erneuten Ruf in die Nachfolge durch den Auferstandenen können die Missverständnisse und Verleugnungen des Petrus (exemplarisch für alle Glaubenden) überwunden werden. Ein Gegenbild zu Petrus ist Judas, den Cornelis Bennema als »The black Sheep of the Family« (360–372) und »negative example« (372) vorstellt. Auch die Hohenpriester haben eine durchgehend nega-tive Rollenzuschreibung. Freilich sind sie es, die durch ihr Verhalten den Prozess gegen Jesus auf der Erzähl- und auf der Sachebene vorantreiben (vgl. ders., The Chief Priests: Masterminds of Jesus’ Death; 382–387). In seinen Ausführungen zum Lieblingsjünger, dieses besonderen johanneischen Zeugen, deutet James L. Resseguie den Lieblingsjünger als »ideal point of view« des Erzählers: Der Evangelist lade seine Leser und Hörer ein, die Sichtweise des Lieblingsjüngers zu übernehmen: »He is a perceptive witness who sees what other disciples do not see: the glory in the flesh« (549). Jean Zumstein deutet 19,25–27 (nicht als Erster, aber zutreffend) familienmetaphorisch als »a New Family Established Under the Cross« (641–645; vgl. auch 207–210).
Entstanden ist ein Kompendium der neuesten Johannesforschung, das methodisch vorgebahnte Wege konsequent auf das gesamte JohEv anwendet, die methodische Diskussion weiterführt und den Nachweis bringt, dass die narrative Johannesauslegung auf hohem Niveau die Intentionen des Evangelisten und damit sein theologisches Zeugnis präzise zu eruieren vermag.
Gerade in den Beiträgen, die diejenigen characters vorstellen, die mehrfach im JohEv begegnen, wird die literarische und interpretativ-theologische Konsistenz des vierten Evangeliums eindrucksvoll nachvollziehbar. Ein durchgehendes Merkmal der characterization aller Akteure im JohEv ist (freilich nicht überraschend) ihre direkte oder indirekte Reaktion auf die Hauptfigur des vierten Evangeliums. Dass die Methodendiskussion innerhalb der narratologischen Johannesforschung nicht abgeschlossen ist, die Durchführung narrativer Analysen unterschiedlich ausfällt und mithin die konkrete Textauslegung weitere Diskussionen anstoßen wird, ist keine Kritik an dem Sammelband, sondern ein ehrliches Gütezeichen.
Die reiche Wirkungsgeschichte vieler johanneischer Figuren in der christlichen Tradition, in Kunst und Literatur, die in den Beiträgen wiederholt aufleuchtet, verdankt sich eben auch der Plastizität und erzählerischen Kunstfertigkeit des Evangelisten. Mit anderen Worten: Er verweigert sich der Komplexitätsverweigerung einfacher Denkmuster und Schablonen.