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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

575–577

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Bremer, Thomas, u. Maria Wernsmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ökumene – überdacht. Reflexionen und Realitäten im Umbruch.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2014. 351 S. = Quaestiones disputatae, 259. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-451-02259-3.

Rezensent:

Jennifer Wasmuth

Um mit der Problemanzeige dieses an sich höchst lesenswerten Sammelbandes zu beginnen: Auf der Suche nach orientierenden Impulsen für ein besseres Verständnis der gegenwärtigen ökumenischen Lage klingt der Titel »Ökumene – überdacht. Reflexionen und Realitäten im Umbruch« verheißungsvoll. Auch die einzelnen Überschriften, die die grobe Struktur des Sammelbandes anzeigen, bestärken in der Erwartung, dass mit den Beiträgen die Komple­-xität ökumenischer Prozesse auf ganz unterschiedlichen Ebenen erhellt werden soll: »Ökumenische Theologie als Theorie ökumenischer Prozesse« (I), »Lehrdifferenzen und Dialog« (II), »Identität und Wahrheit« (III), »Einheit und Anerkennung« (IV), »Neue Beobachtungen und Realitäten« (V).
Das Vorwort der Herausgeber, der beiden in Münster tätigen katholischen Theologen Thomas Bremer und Maria Wernsmann, steht dieser Erwartung dann jedoch insofern entgegen, als das Titelwort »überdacht« mit dem Fehlen einer »überdachenden Theorie« in Verbindung gebracht wird, die die »ökumenischen Prozesse auf adäquate und zugleich möglichst verallgemeinerbare Art und Weise zu erfassen vermag« (10). Abgesehen davon, dass allein schon das Postulat einer solchen Theorie zu diskutieren wäre (vgl. dazu die Überlegungen von Thomas Bremer selbst in dem ersten Beitrag des Sammelbandes, hier besonders 35 f.), weckt die damit einhergehende Zielbestimmung des Sammelbandes, »zu einer Me­tareflexion (oder ›Überdachung‹) ökumenischer Prozesse beizutragen« (10), die Befürchtung, dass hier einlinige Erklärungsan­sätze für bestimmte ökumenische Entwicklungen geboten werden könnten. Dass sich die Beiträge im Gegenteil nicht nur einem ökumenehermeneutischen Ansatz verpflichtet wissen, vielmehr ein weites Spektrum an ökumenehermeneutisch relevanten Aspekten reflektieren, macht die große Stärke dieses Sammelbandes aus.
Eine eigene Theorie ökumenischer Prozesse hat in den 70er Jahren Peter Lengsfeld (1930–2009), seinerzeit Professor für Ökume­-nische Theologie und Direktor am Katholisch-Ökumenischen In­stitut in Münster, entwickelt. Die von ihm selbst mit dem aus der Individual- und Gruppenpsychologie entlehnten Begriff der »Kollusion« verbundene Theorie, die aufgrund ihrer sozialwissenschaftlichen Anleihen seinerzeit umstritten war und bis heute kaum rezipiert ist, war Anlass für eine 2011 in Münster stattfindende Tagung, deren Beiträge den Grundstock des Sammelbandes bilden. Gerade weil in der Kollusionstheorie neben theologischen auch nicht-theologische Faktoren eine Rolle spielen, die möglicherweise erklären können, warum trotz intensiver Dialogbemühungen in den letzten Jahrzehnten in der Ökumene der Gegenwart stagnierende Tendenzen die Oberhand zu gewinnen scheinen, wird diese Theorie interessant.
Unmittelbar knüpft Heinz-Günther Stobbe (katholisch) an die Kollusionstheorie an, um als Referenzrahmen allerdings die Theorie sozialer Systeme zu wählen. Das führt u. a. zur Korrektur des von Lengsfeld verwendeten Begriffes von »Identität«, den Stobbe nicht mehr länger als »Faktor«, sondern als Ergebnis eines dynamischen Beziehungsgeschehens verstehen möchte. Das erlaubt ihm, zwi-schen Konfessionalismus und Konfession in dem Sinne zu un-terscheiden, dass nur jenseits des Konfessionalismus eine öku-menische Identität vorstellbar wird, »in der die konfessionellen Identitäten ihren trennenden Charakter verlieren, ohne zu verschwinden« (57).
Über den Begriff der »Identität« hinaus begegnen in dem Beitrag von Stobbe bereits auch jene anderen, für ökumenehermeneutische Theorien jeglicher Art zentralen Begriffe, die in den folgenden Beiträgen eingehender behandelt werden. Dazu gehört der Begriff der »Wahrheit«, den Bernhard Nitsche (katholisch) in einer Weise profiliert, dass Bernd Oberdorfer (evangelisch), der Nitsches Ansatz in einem eigenen Beitrag würdigt, aus nachvollziehbaren Gründen zu dem Ergebnis kommt, dass, sollte »sich Nitsches Deutung [der ›Elemente‹ wahren Kircheseins] als innerkatholisch konsensfähig erweisen, […] man darüber noch einmal neu nachdenken« (179) müsste. Dazu gehört ferner der für die Kollusionstheorie ebenfalls zentrale Begriff der »Macht«, den Maria Wernsmann heranzieht, um ihrerseits unter Rückgriff auf die Theorie sozialer Systeme die römisch-katholischen und orthodoxen Beziehungen zu analysieren. Eindrücklich sind die Überlegungen von Evgeny Pilipenko (orthodox) zum Begriff der »Einheit«; in Abgrenzung von der beliebten, jedoch nur vorderhand plausiblen Analogisierung des ökumenisch-ekklesiologischen mit dem immanent-trinitarischen Einheitsmodell spricht Pilipenko sich für ein sakramental fundiertes Einheitsverständnis aus, in das sich das voluntative Moment ökumenischen Handelns integrieren lässt. Nicht zuletzt finden sich zwei aufschlussreiche Beiträge zum Begriff der »Anerkennung«: Risto Saarinen (evangelisch) entwirft im Anschluss an neuere philosophische Diskussionen vielversprechende erste Skizzen zu einer Theorie von Anerkennung im ökumenischen Kontext, die Anerkennung im Unterschied zu adäquater Würdigung als wechselseitigen Gabenaustausch fasst. Ausgehend von der Analyse verschiedener ökumenischer Dokumente betont Dagmar Heller (evangelisch) in ihrem Beitrag in Kritik der beiden von Saarinen thematisierten Anerkennungstheorien den Zusammenhang von »anerkennen« und »erkennen«.
Über die stärker theoretisch ausgerichteten Beiträge hinaus bietet der Sammelband eine Reihe von Beiträgen, die sich mit verschiedenen ökumenischen Initiativen befassen und die hier we-nigstens genannt seien: von Wolfgang Thönissen (katholisch) über die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung«; von Hans-Peter Großhans (evangelisch) über das von Kardinal Walter Kasper im Jahre 2009 publizierte Buch »Harvesting the Fruits. Aspects of Chris­tian Faith in Ecumenical Dialogue«; von Dorothea Sattler (katholisch) über das von prominenten Fachvertretern auf katho-lischer und evangelischer Seite getragene, kritisch rezipierte Stu-dienprojekt »Grund und Gegenstand des Glaubens«; von Stephanie Dietrich (evangelisch) über die »Leuenberger Kirchengemeinschaft« sowie von Huub Vogelaar (evangelisch) über das u. a. von ihm selbst im Jahre 2008 evaluierte »Global Christian Forum«. Gemeinsam ist diesen Beiträgen, dass sie nicht einer deskriptiven Ebene verhaftet bleiben, sondern dass ihnen vielmehr gelingt, was im Vorwort bereits angekündigt wird, nämlich »die Strukturen hinter den theologischen Problemen aufzudecken« (11). Ein wenig heraus fällt der Beitrag von Manfred Marquardt (evangelisch), in dem John Wesleys (1703–1791) Verständnis von »catholic spirit« darlegt wird – ein Terminus, der mit »ökumenischer Gesinnung« nur unzureichend übersetzt ist.
Der Sammelband würde hinter den gegenwärtigen ökumenischen Erfordernissen zurückbleiben, wenn er nicht globale Entwicklungsperspektiven einbezöge. Das macht insbesondere der am Ende des Sammelbandes stehende Beitrag von John D’Arcy May (katholisch) deutlich, der sich wie ein Resümee der wichtigsten Ergebnisse der vorhergehenden Beiträge und zugleich ihrer Fortführung hin zu den »Zukunftsfragen der Ökumene« (vgl. 342) liest. Michael Biehl (evangelisch) zeigt in seinem instruktiven Beitrag die Herausforderungen auf, vor denen die Missionswissenschaft und damit auch die Ökumene angesichts der rapide wachsenden »Christentümer« stehen. Er problematisiert die These vom sogenannten »shift of gravity«, der Verlagerung des geographischen Schwerpunktes des Christentums von Nord nach Süd, und setzt ihr die begründete Annahme entgegen, »dass ökumenische Prozesse und die ökumenische Bewegung es in Zukunft eher mit Differenzen zu tun bekommen werden, die auf unterschiedlichen theolo-gischen Profilen beruhen, als mit einer grundsätzlichen Differenz zwischen ›Süd‹ und ›Nord‹« (291). Um die These vom »shift of grav­ity« geht es auch in dem Beitrag von Jutta Koslowski (evangelisch); sie verweist auf das damit einhergehende Phänomen einer Entkonfessionalisierung, das ihrer Meinung nach gerade zu einer Stärkung der Konfessionskunde führen sollte.
Mit der Bandbreite an Themen und methodischen Zugängen, die gleichwohl auf das Anliegen, Ökumene zu überdenken, hingeordnet bleiben, empfiehlt sich der Sammelband einem jedem, der an Fragen der Ökumene interessiert ist. Er stellt einen grundlegend orientierenden, zugleich aber auch in hohem Maße motivierenden Impuls im Blick auf die Zukunftsfähigkeit der Ökumene dar, indem er deutlich werden lässt, dass an verschiedenen Orten ein intensives Nachdenken darüber stattfindet, wie der – wie auch immer genau zu bestimmenden – »Krise« der Ökumene zu begegnen ist.