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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

549–551

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Neville, Robert Cummings

Titel/Untertitel:

Existence. Philosophical Theology, Vol. II.

Verlag:

Albany: State University of New York Press 2014. 412 S. Geb. US$ 105,00. ISBN 978-1-4384-5331-6.

Rezensent:

Hermann Deuser

Eine neue Existenz-Analytik ist anzuzeigen: Nicht existenzialis­tisch, sondern kosmologisch; nicht auf das Nadelöhr einer Entscheidungssituation fixiert, sondern metaphysisch argumentativ; nicht anti-naturalistisch, sondern allgemein-ontologisch bietet dieser zweite Band der dreibändig konzipierten Philosophischen Theologie (vgl. zum ersten Band: ThLZ 139 [2014], 921–923) eine »Theologische Anthropologie« mit gleichzeitig starker ethischer Orientierung. Systematisiert und analysiert wird das weite Feld menschlicher »Existenz«, d. h. die Nähe des gelebten Lebens und der gelebten Religion, so wie Menschen sich zu sich, zum Anderen (Menschen und Natur) und zur Welt im Ganzen verhalten. Dieses Verhalten wird nicht aus einem tiefsten oder höchsten Punkt deduziert, sondern in der ganzen Breite seines extremen, unabschließbaren Variantenreichtums respektiert; und das führt weder zu einer beliebigen Optionalität noch zu einem haltlosen Konstruktivismus. Im Gegenteil, es gilt die anthropologische Rahmenthese in Anwendung der metaphysischen, ontologischen und axiologischen Grundlegungen aus Band 1 (»Ultimates«): »Unbedingtheit« wird darstellbar in einem (ontologischen) Akt von Kreativität ex nihilo, zu dem vier (kosmologische) Determinanten oder »Predicaments« (dt. wohl am besten: »Bedingungsstrukturen«) gehören, in denen sich das Schöpferische am Geschaffenen Ausdruck gibt – abstrakt gesprochen in der Bestimmtheits-Form, den Form-Elementen, der existentiellen Lokalisierung und der daraus sich entwickelnden Wert-Identität (value-identity). Diese vier Bedingungsstrukturen geben zugleich die Gesamtgliederung des Buches in vier Mal vier Kapitel vor, und sie erschließen in je nach Kontext variierenden Fassungen die Grundzüge der herausgeforderten menschlichen Existenz und das Versprechen der Religion.
So erscheint die conditio humana in spezifischer Anwendung jener Kategorisierungen, einerseits in den existentiellen Bedingungsstrukturen, andererseits in den entsprechenden Formen des Scheiterns sowie der Erlösung in Formen ekstatischer Erfüllung (ecstatic fulfillment), wie sie die Religionen bezeugen. Dies alles findet seine Gestalt in der phänomengenauen Präsentation von beispielhaften Realisierungen, besser: Beleginstanzen aus den Bewährungssituationen von Lebenswelt und religiösen Reaktionsformen (vgl. die Definition von Religion, 3). Dabei handelt es sich ausdrücklich nicht um eine Religionsphänomenologie im klassischen Sinn dieses Begriffs (183 f.). Denn während diese »induktiv« im Vergleichen des Verschiedenen allgemeine religiöse Symbole entwi-ckelt, geht es der Philosophischen Theologie um die Formen der Begegnung und Auseinandersetzung (»engagement«, vgl. zu diesem Begriff 257 f.) mit dem Unbedingten, wie sie sich in den Symbolen der ganz unterschiedlichen religiösen Erfahrungen spiegeln. Dieses philosophisch-theologische Leitinteresse an der existentiellen Aneignung erinnert in seiner zugleich ontologisch-systematischen und existentiell-situativen Ausrichtung an Paul Tillichs Systematische Theologie, und erklärtermaßen verarbeitet die Philosophische Theologie gerade auch Impulse Tillichs: den »ultimate concern«, den ontologischen »Schock« in den Erfahrungen der Moderne, den »Mut zum Sein« und die »Gebrochenheit« der (christlichen) Symbole. Die Auseinandersetzung mit dem Unbedingten ist jedenfalls anthropologisch gesehen unvermeidlich, und, anders als Tillich, verbindet die Philosophische Theologie die existentiellen Motive ohne Vorbehalte mit den »kosmologischen« Kategorien: »one lives in ultimate perspectives in all things, or at least the important ones« (307), und wer dies nicht wahrhaben will, ist »religiously crude, or ignorant, or unfree in this respect« (308).
Das Abstrakt-Kategoriale und das Existentiell-Phänomenale wollen sich in dieser Anthropologie gegenseitig auslegen. Beispielhaft ist die Einführung zum II. Teil (Kapitel 4–8), worin nach der Grund-legung der Kategorien des Unbedingten im I. Teil (»Obligation«, »Wholeness«, »Engagement«, »Achievement«) jetzt deren Formen des Nichtgelingens zusammen mit den religiösen Antworten zur Heilung dieser Ambivalenzen und Gebrochenheiten aufgeführt wer-den (110 f.): »Guilt«/»Justification«, »Disintegration«/ »Centeredness«, »Estrangement«/»Connection«, »Destruction«/ »Happi­ness«, und es ist ebendie Eigenart der Religionen, solche Widersprüche aufzuhellen und Befreiungen anzubieten. Das Belegmaterial aus den Religionen wird jeweils ebenso treffend wie vielfältig dokumentiert, hier beispielsweise in einer gerafften Nennung der unterschiedlichen christologischen Heilungsmodelle in den Symbolsystemen des Christentums (110). Dass aber nicht nur solche Zuordnungen von anthropologischen Bedingungen und religiösen/theologischen Re­aktionsformen aufgelistet werden (vgl. die entsprechenden Strukturgitter der Leitbegriffe in Kapitel 1–8, 103 f.184 f.), sondern auch die existentielle Ebene des jeweils zu vollziehenden Aneignungsvorgangs in heute akuten Erfahrungen erreicht wird, zeigt z. B. Kapitel 5 zur Ge­brochenheit der Kategorie »Verpflichtung«, wenn nämlich deren Normativität nicht nur nicht eingehalten, sondern als solche negiert werden soll. Der existentielle Nihilismus und Situationen der Verzweiflung haben hier ihren Ort (123), doch diese Erklärung hebt den Situationsvorrang solcher Erfahrungen und ihrer Bewältigung nicht auf, sondern zeigt die mögliche Leistungsfähigkeit religiöser Symbolsysteme für das Leben.
Die Teile III (»Ecstatic Fulfillment«, Kapitel 5–8) und IV (»Eng-agement and Participation«, Kapitel 9–16) setzen die ambivalente, bedrohte und verheißungsvolle anthropologische Situation voraus und beschreiben sie aus der Perspektive religiöser Lebensformen. Ob diese – z. B. Liebe und Freiheit, Ritual und Glaube – wirklich gelingen, ist von vielen Faktoren abhängig, und eine Konsistenz dieser Angebote ist nicht einmal in derselben Religion gegeben. Die Philosophische Theologie kann das erklären, und sie hält, im Rahmen der Religionen der »Achsenzeit«, die Orientierung am Unbedingten und an dem fundamentalen schöpferischen Akt als Maßstab bereit: Inwieweit genügen die religiösen Symbole und Praktiken der Verarbeitung unbedingter, verpflichtender und werthafter Selbstfindung, die dem wissenschaftlichen Stand der Dinge und den lebensweltlichen Erfahrungen standhalten können? Hierfür gilt zuletzt: Die ontologische Kreativitätsthese hat die »radikale Kontingenz« der Welt zur Folge (232 f.), und daraus wiederum folgt das praktische Risiko, trotzdem eine eigene, sinnvolle Wert-Identität aufzubauen und sich dem »ontological shock« (317) des Existierens ausgesetzt zu finden. »Ecstatic fulfillment« bedeutet dann, unter diesem Stichwort die ganze Palette religiöser Erfahrungen und ihrer Versprechungen, von »popular religion« (199 f.) bis zur philosophisch aufgeklärten Wahrheitsfrage (222), zum Thema machen zu können. Worauf sich religiöse Symbole und vor allem Rituale (vgl. das große Kapitel 13) beziehen, lässt sich semiotisch – und kritisch – so fassen: Einen direkten Gegenstandsbezug zu behaupten, wie es die populäre Religionsauffassung gerne tut, ist verfehlt und kann durch philosophisch-theologische Bearbeitung aufgeklärt werden. Die wahre Bedeutung wird erst dann erreicht, wenn exemplarisch im Gottesbegriff die Nicht-Gegenständlichkeit verstanden und gerade so die Gebrochenheit der Zeichen der Erfüllung und des Unbedingten wahrgenommen werden. Von der le­benspraktischen Kraft der konfuzianischen Alltagsrituale bis zur Detailanalyse des christlichen Gottesdienstes (267 ff.) werden Vielfalt und Bedeutungsvarianz dessen demonstriert, was zuletzt im Aushalten und religiösen Durchdringen der Endlichkeit sein Kriterium hat: »To perfect the engagement of the issues on our watch in the face of change and death is to embrace, in a summary way, all the remedies of human predicament religion can dispose and to embody ecstatic fulfillment beyond proximate scope.« (306)
Wenn diese Perspektiven hier, im zweiten Band der Philosophischen Theologie, vorwiegend »individuell« orientiert waren (321), so können wir auf den »sozialen« Schwerpunkt im dritten Band Religion wirklich gespannt sein.