Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

518–520

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Widmann, Alexander Christian

Titel/Untertitel:

Wandel mit Gewalt? Der deutsche Protestantismus und die politisch motivierte Gewaltanwendung in den 1960er und 1970er Jahren.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 645 S. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 56. Geb. EUR 140,00. ISBN 978-3-525-55771-6.

Rezensent:

Gerhard Lindemann

Die Heidelberger zeitgeschichtliche Dissertation von Alexander Christian Widmann (bei dem Historiker Edgar Wolfrum) beschäftigt sich mit der Haltung des deutschen Protestantismus zu der Problematik des Einsatzes von Gewalt mit dem Ziel einer Veränderung politischer Verhältnisse und Strukturen in den 1960er und 1970er Jahren. Dies führte zu einer Politisierung und Polarisierung innerhalb der evangelischen Kirche. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf dem Westen Deutschlands.
Analysiert werden in chronologischer Vorgehensweise vier Teilkontroversen, die sich sämtlich im Kontext des öffentlichen Diskurses in der bundesdeutschen Gesellschaft über die Berechtigung von Gewaltanwendung aus politischer Motivation bewegten, beginnend mit der Auseinandersetzung um die »Theologie der Revolution«. Sie war in den 1960er Jahren im Kontext des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) entstanden. Dort bestimmte immer stärker der Nord-Süd-Konflikt die politische Agenda. Das war eine Folge der Erweiterung des ÖRK um die selbständig gewordenen »jungen« Kirchen aus der sogenannten »Dritten Welt« und überdies um die russisch-orthodoxe Kirche, aber ergab sich auch aus der seit 1962 einsetzenden Entspannungspolitik. Letztere ließ den Kalten Krieg und damit die »deutsche Frage« in ihrer Bedeutung zurücktreten. Auf der Genfer Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft im Juli 1966 wurde angesichts der Verhältnisse in Lateinamerika und im südlichen Afrika die zunächst vor allem von dem Ökumeniker Richard M. Shaull (Princeton) konzipierte Theologie der Revolution offen thematisiert, auch wenn sich die Tagung nicht einfach unter diesem Schlagwort zusammenfassen ließ. Damit verbunden war die Frage nach einer Neudefinition der Lehre vom gerechten Krieg. Die Debatte setzte in Deutschland zu Beginn des Jahres 1967 ein. Sie stand vor allem im Kontext der Kontroversen um die »Moderne Theologie«, gemeint war damit insbesondere die historisch-kritische Bibelauslegung, und infolge der Ostdenkschrift der EKD von 1965 um den Vorwurf einer Linkspolitisierung des deutschen Protestantismus. Insgesamt wird gezeigt, dass sich die Diskussion differenziert gestaltete, das betraf auch die Frage nach einer Ausweitung des Gewaltbegriffs. Auf der anderen Seite forderten auch dieser Positionierung kritisch gegenüberstehende Theologen zu einem Überdenken der historischen Distanz des deutschen Protestantismus gegenüber dem Revolutionsgedanken auf. Die Debatte beschränkte sich jedoch überwiegend auf akademische Kreise.
Durch die sogenannte »1968er«-Bewegung verbreiterte sich der Gewaltdiskurs. Dazu trugen die Attentate auf Benno Ohnesorg 1967 sowie Martin Luther King und Rudi Dutschke 1968 bei. Dabei spielte zunächst die Differenzierung zwischen Gewalt gegenüber »Sachen« und Gewalt gegenüber Personen eine Rolle. In Berlin gelang es Bischof Kurt Scharf und dem Systematischen Theologen Helmut Gollwitzer durch Einwirken auf die Studierenden, eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern. Der Rat der EKD hielt an der Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols fest, forderte jedoch zugleich eine Ausweitung des Demonstrationsrechts. Dennoch verschärfte sich die innerkirchliche Polarisierung in der Frage der politischen Diakonie der Kirche. Auch der ÖRK gab auf seiner Vollversammlung in Uppsala gewaltlosen Widerstandsformen den Vorrang – dies dürfte, ließe sich ergänzen, auch damit zusammengehangen haben, dass im Unterschied zur Weltkonferenz in Genf 1966 wieder im Wesentlichen die Mitgliedskirchen und nicht der Genfer Stab bestimmten.
Nach einer Straßenschlacht in Berlin (West) am 4. November 1968, bei der zum ersten Mal mehr Polizeibeamte als Demonstranten verletzt wurden, begann der Zerfall des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Der den Anliegen der 68er-Bewegung wohlwollend gegenüberstehende Gollwitzer trug auf einer Berliner Studentenversammlung durch eine Rede, in welcher er eine revolutionäre Situation im Westen Deutschlands nicht als gegeben ansah, zur Ablehnung der Eskalation durch die Mehrheit der politisch aktiven Studierenden entscheidend bei. Gollwitzer stieß mit seiner Position ebenso wie seine Tübinger Kollegen Jürgen Moltmann und Ernst Käsemann allerdings auch bei einem Teil der Theologiestudierenden auf Ablehnung. Die Gewaltskepsis der überwiegenden Mehrheit der deutschen Theologen bezog sich allerdings nicht auf Latein- und Mittelamerika, das galt jedoch auch für linksliberale Printmedien wie »Stern« und »Spiegel« (303). Bewaffnete revolutionäre Gewalt sah man allerdings auch für diese Länder nur als ein allerletztes Mittel an.
Dies spiegelte sich auch in der in den frühen 1970er Jahren geführten Kontroverse um eine Unterstützung des Antirassismusprogramms des ÖRK wider. Da nicht klar war, ob mit diesem Hilfsprogramm nicht auch Waffenkäufe durch die unterstützten Befreiungsbewegungen möglich sein würden, war es innerhalb des westdeutschen Protestantismus umstritten. Interessant und schlüssig ist der Hinweis, dass dies vor allem mit dem Erfahrungshintergrund der ersten linksterroristischen Gewaltaktionen in der Bundesrepublik zusammenhing. Innerhalb des ostdeutschen Protes­tantismus wuchs die Skepsis ebenfalls, auch wenn es dort auf der Ebene des Kirchenbundes bei einer offiziellen Bejahung blieb (469).
Einen weiteren Schwerpunkt bildet der westdeutsche Linksterrorismus. Auf Seiten der protestantischen Linken lehnte man zwar die auf Terror und Gewalt beruhende Strategie der Roten Armeefraktion (RAF) ab, versuchte aber, mögliche Beweggründe, wie den Kampf gegen eine »strukturelle Gewalt« des Staates, nachzuvollziehen. Das führte zum Teil auch zu Solidarisierungen mit inhaftierten »Genossen«, auf der anderen Seite zu Medienkampagnen gegen eine Kirche, die angeblich dem Terrorismus Vorschub leiste, und einen in der Gewaltfrage diffusen »Linksprotestantismus«. Der Mehrheitsprotestantismus hingegen bejahte den demokratischen Verfassungsstaat und wandte sich infolgedessen gegen terroristische Aktionen. Das beförderte nach Ansicht W.s ein »letztlich tiefer greifendes Demokratieverständnis« (478 f.). Da stellt sich jedoch die Frage, ob dazu nicht für die 1970er Jahre die Reformpolitik unter Willy Brandt (»Mehr Demokratie wagen«), der im protestantischen Milieu tief verwurzelte Bürgerpräsident Gustav Heinemann und die Entstehung der Neuen Sozialen Bewegungen Entscheidenderes beitrugen als die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus.
Die instruktive Studie bewegt sich auf einer breiten Quellenbasis. Der Nachteil der Materialnähe ist bisweilen eine zu starke Textimmanenz. So wird zum Beispiel berichtet, dass der Neutestamentler Ernst Käsemann 1977 wegen des württembergischen Synodalbeschlusses, der Tübinger Studentengemeinde aus politischen Gründen die Mittel zu kürzen, seinen Kirchenaustritt »verkündete« (444). Unerwähnt bleibt, dass ein solcher Schritt schließlich unterblieb, da die Landeskirche nachgab.
Das sinnvoll gewählte zeitliche Ende der Studie begründet W. mit einem Paradigmenwechsel zu »Frieden schaffen ohne Waffen« in den 1980er Jahren (482). Dem ließe sich hinzufügen, dass der Ost-West-Konflikt wieder stärker auf die politische Agenda rückte. Dennoch gab es kein völliges Verschwinden der Gewaltfrage (vgl. z. B. bestimmte Vorgänge auf dem Hamburger Kirchentag 1981 oder die kritiklose Unterstützung oder gar Glorifizierung der Revolutionsregierungen in Nicaragua oder El Salvador durch Teile des »linken« protestantischen Spektrums).