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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

515–517

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Stahl, Michael

Titel/Untertitel:

Vom Nationalsozialismus in die Demokratie. Die Evangelische Landeskirche von Kurhessen-Waldeck während der Amtszeit von Bischof Adolf Wüstemann (1945–1963).

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2013. 448 S. = Konfession und Gesellschaft, 48. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-17-022961-7.

Rezensent:

Gerhard Lindemann

Bei dieser Publikation von Michael Stahl handelt es sich um die gekürzte Fassung einer von dem Marburger Kirchenhistoriker Jochen-Christoph Kaiser betreuten Dissertation. Die Untersuchung ist klar strukturiert und verfügt über eine detaillierte Gliederung, die den Zugang erheblich erleichtert. Sie beruht auf breiten Archivstudien, erschließt vorwiegend durch die Forschung noch nicht ausgewertetes Quellenmaterial und wertet es methodisch überzeugend aus. Thematisch liegt der Fokus vor allem auf der Neuordnung der Evangelischen Landeskirche Kurhessen-Waldeck vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Ausgang der »Ära Adenauer«.
Die Darstellung setzt ein mit einer breiteren Skizze der Entwicklung der 1934 entstandenen Landeskirche während der NS-Herrschaft. Das ist sinnvoll wegen des in diesem Zeitabschnitt eingeschlagenen Sonderwegs, markiert durch das Fortbestehen des Landeskirchenausschusses bis 1945. Das ermöglichte der Landeskirche eine Bewahrung vor größeren politischen und ideologischen Eingriffen. Dieser Kurs wurde allerdings erkauft durch ein Schweigen zu den NS-Verbrechen und auch durch ideologische Kompromisse. Hinsichtlich des späteren Verhältnisses der Landeskirche zur werdenden EKD wäre ein Hinweis von Interesse, ob und in welcher Gestalt während der letzten Kriegsjahre eine Mitarbeit im Kirchlichen Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Wurm erfolgte.
Bereits Ende September 1945 tagte eine Notsynode in Treysa. Ein Bischofsamt wurde eingeführt. Es erwuchs einerseits aus den Er­fahrungen der NS-Zeit, vor allem den Schwierigkeiten, in Kassel eine kollegiale geistliche Leitung zu etablieren, aber auch aus dem kolportierten Bild einer durch das episkopale Amt garantierten weitgehenden Eigenständigkeit der sogenannten »intakten« Landeskirchen Bayern, Hannover und Württemberg (74). Man wollte zudem ein deutlicheres Gegengewicht gegen von außen beeinflussbare Synoden und die konsistoriale Ebene herstellen. Begründet wurde der Schritt pragmatisch mit der Not der Gegenwart und der Notwendigkeit eines nominellen Äquivalents zum Katholizismus (96). Mit dem gemäßigten Lutheraner Adolf Wüstemann (1901–1966) wählte man einen integrativen, der liberalen akademischen Theologie gegenüber aufgeschlossenen Vertreter der Bekennenden Kirche (99 f.). Das neue Leitungsgesetz sah ein bipolares Gegenüber von Bischofsamt, ausgestattet »mit einer Überfülle an Kompetenzen« (413), und Synode vor.
Wie in anderen Landeskirchen war in den weitgehend eigenständig durchgeführten Entnazifizierungsverfahren eine bloße Zugehörigkeit zur NSDAP kein ausreichender Grund für eine Disziplinarmaßnahme. Die rechtliche Grundlage für die Arbeit des eingesetzten Überprüfungsausschusses erwies sich allerdings als wenig tragfähig (Kapitel 5.3.6). Der 1947 weitgehend beendete Selbstreinigungsprozess und die vor allem in ihrer ökumenischen Dimension als positiv eingeschätzte Stuttgarter Schulderklärung des Rates der EKD vom Oktober 1945 wurden nicht zum Anlass genommen, den Weg der Landeskirche während der NS-Zeit kritisch zu reflektieren (167.171 f.). Wie auch andere kirchenleitende Persönlichkeiten in den Westzonen kritisierte der Kasseler Bischof scharf die allgemeine Entnazifizierungspraxis der Alliierten im Sinne einer Anwaltschaft für die deutsche Bevölkerung (Kapitel 5.4.3). In diesem Kontext stellt sich zusätzlich die Frage nach dem landeskirchlichen Verhalten gegenüber Opfern des NS-Regimes im Raum der Kirche, zum Beispiel Christen jüdischer Herkunft.
Die Landeskirche bewahrte ihre konfessionelle Vielfalt, um ein andernfalls befürchtetes Auseinanderbrechen zu verhindern. Eine Liturgiereform sollte ein Zusammengehörigkeitsbewusstsein stärken – das gelang jedoch nur begrenzt (Kapitel 6.1). Nach außen verhielt man sich um der Bewahrung der landeskirchlichen Einheit willen konfessionspolitisch neutral, indem man sich keiner der drei innerhalb der EKD bestehenden Konfessionsfamilien zuordnete. Die Folge war für den behandelten Zeitraum eine nahezu passive Mitgliedschaft im deutschen Gesamtprotestantismus (Kapitel 6.2).
Eine besonders intensive Behandlung erfährt das Staat-Kirche-Verhältnis. Die Kirchenartikel der hessischen Landesverfassung von 1946 trugen aufgrund des politischen Kräfteverhältnisses Kompromisscharakter. Sie betonten einerseits eine besondere Stellung der Kirchen, trennten jedoch Staat und Kirche deutlicher als in der Weimarer Reichsverfassung von 1919, indem sie eine kirchliche Einmischung in staatliche Angelegenheiten ausdrücklich untersagten. Auch der Fortbestand der Staatsleistungen an die Kirchen stand kurzzeitig in Frage. Beides wurde allerdings durch das Grundgesetz und darauf folgend durch einen hessischen Verfassungskommentar des Juristen Erwin Stein abgemildert, führte aber dennoch zunächst zu einer gewissen Distanz der Kasseler Kirchenleitung gegenüber dem von der SPD regierten Bundesland. 1950 erfolgte endgültig eine Umstellung der Orts- auf eine zentralisierte Landeskirchensteuer. Das bedeutete eine Stärkung der Gesamtkirche gegenüber den Ortsgemeinden, ermöglichte den Ausbau übergemeindlicher Arbeitsformen und Dienstleistungen und war eine entscheidende Voraussetzung für eine finanzielle Teilhabe der Landeskirche am wirtschaftlichen Aufschwung der bundesdeutschen Gesellschaft. Der Hessische Staatskirchenvertrag von 1960 regelte in ausgewogener Weise Rechte und Pflichten der beiden Vertragspartner und erkannte den kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag ausdrücklich an. Verantwortlich für dieses auch aus kirchlicher Perspektive vorteilhafte Ergebnis war zum einen Wüstemanns Ablehnung des Postulats eines kirchlichen Wächteramtes über die Politik, vor allem jedoch die Öffnung der SPD gegenüber den christlichen Kirchen, nicht zuletzt in Hessen (betont wird z. B. die Rolle des Religiösen Sozialisten und EKD-Synodalen Ludwig Metzger).
Zu den im Bereich der EKD intensiv und kontrovers diskutierten verteidigungs- und deutschlandpolitischen Fragen, die mit der auch zunächst gesamtgesellschaftlich strittigen Westintegration der Bundesrepublik zusammenhingen, schwieg die Kasseler Kirchenleitung weitgehend. Das führt S. vor allem auf notwendige Rücksichtnahmen angesichts der territorialen Zugehörigkeit des kurhessischen Kirchenkreises Schmalkalden zur benachbarten DDR zurück. Ein weiterer Grund für diese Zurückhaltung könnte in der konfessionspolitischen Neutralität der Landeskirche zu sehen sein, da die Positionierungen der Konfliktparteien innerhalb der EKD auch auf unterschiedliche theologisch-ethische Grund entscheidungen zurückzuführen waren. Eine neue Form der Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung war die Übernahme gesellschaftsdiakonischer Aufgaben, am deutlichsten ausgeprägt bei der Einrichtung einer professionalisierten industriepfarramtlichen Seelsorge im VW-Werk Kassel-Baunatal. Insgesamt gesehen bescheinigt S. der Wahrnehmung des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags jedoch gut nachvollziehbar einen Mangel an konzeptionellen Überlegungen und an theologischer und sozialwissenschaftlicher Grundlegung (377).
Seit 1959 wurden in der Landeskirche – wie auch in der bundesdeutschen Gesellschaft – Wünsche nach Reformen lauter, vor allem das synodale Selbstbewusstsein wuchs. Die daraus entstandenen Spannungen waren ein wesentlicher Grund für Wüstemanns Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand zum 1. Januar 1963. Die neue landeskirchliche Grundordnung von 1967 stärkte unter anderem die Kompetenzen der Synode und eröffnete erweiterte Perspektiven.