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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

421–424

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Beck, Birgit

Titel/Untertitel:

Ein neues Menschenbild? Der Anspruch der Neurowissenschaften auf Revision unseres Selbstverständnisses.

Verlag:

Münster: mentis Verlag 2013. 315 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-89785-828-2.

Rezensent:

Andreas Klein

Das vorliegende Werk, hervorgegangen aus der Dissertation von Birgit Beck, ist der kritischen Auseinandersetzung von zum Teil hochtrabenden und grundstürzenden Ansprüchen seitens einiger neurowissenschaftlich motivierter Autoren gewidmet. 2004 er­schien bekanntlich ein sogenanntes »Manifest« von renommierten Neurowissenschaftlern, in dem teilweise recht hohe Erwartungen an künftige Entwicklungen und Erkenntnisse in den Neurowissenschaften formuliert wurden, die auch mit einer grundlegenden Problematisierung unseres Menschenbilds rechnen. Schon zuvor war von verschiedenen Seiten von einem »neuen Menschenbild«, einem »Frontalangriff auf die […] Menschenwürde«, von einer »Abschaffung des Menschen« und von einer »neurobiologischen Kränkung« analog zur kopernikanischen, darwinschen und freudschen Kränkung die Rede. Es fehlt dann auch nicht an Äußerungen darüber, dass von moralischer Schuld eigentlich nicht mehr sinnvoll gesprochen werden könne (Roth, Singer) und somit unser gesamtes Sozialsystem umzubauen oder jedenfalls umzudenken wäre und dass sich schließlich Wissenschaft und Willensfreiheit ausschließen (Prinz). Entsprechend wurde auch Willensfreiheit mehrfach als »Illusion« oder »Täuschung« (Guckes, Wegner) qualifiziert, womit dann aber auch Verantwortlichkeit und persönliche Schuld dahin fielen. Schließlich ist von Wolfgang Prinz nur noch die resignative Auskunft zu erfahren: »Philosophie nervt!« Im deutschsprachigen Raum hat sich hierauf eine breite Diskussion entsponnen, die jedoch in der angelsächsischen Welt längst angelaufen ist und hier auch ihre direkten argumentativen Vorläufer hat. Insofern reiht sich das Buch von B. in diese Problemkonstel-lation ein.
Die breiten Diskurse führten zu weiteren Differenzierungen und Klarstellungen und es kann durchaus behauptet werden, dass die Argumente pro und contra eigentlich hinlänglich auf dem Tisch liegen. So bietet das Buch weniger einen echten Neueinsatz als vielmehr eine qualifizierende Einführung und Zusammenführung. Schade ist vielleicht, dass B. die 2009 erschienene umfang-reiche Erörterung des Willensfreiheitsproblems des Rezensenten offenbar nicht wahrgenommen hat und zudem leider auch andere zentrale Texte etwa zum aktuellen Willensfreiheitsdiskurs (etwa die einschlägigen Arbeiten von Dennett, Fischer und Ravizza, Kane, Waller, Wegner usw.) fehlen. Nichtsdestotrotz sind die zugrunde liegenden Argumentationsstränge jedenfalls aufgenommen.
Blickt man auf die inhaltliche Übersicht, so finden sich hier die zu erwartenden Themenbereiche: Menschenbilder, philosophische (Hinter-)Grundprobleme (Leib-Seele-Problem; Willensfreiheit; na­turalistische Freiheit), rechtliche und ethische Implikationen, die »neurobiologische Kränkung«, neues Menschenbild. Schon aufgrund dieser Zusammenstellung ist zu erwarten, dass die einzelnen Themenbereiche nicht umfassend erörtert werden können, da zu diesen selbst mittlerweile gefüllte Bibliotheken zur Verfügung stehen. B. zielt nach eigener Auskunft auf eine Begriffskritik und eine Versachlichung der Diskussion, wobei auch und gerade Missverständnisse ausgeräumt werden sollen (20). Sie selbst bezieht dabei den Standdpunkt eines Naturalismus in metaphysischer, weniger in methodologischer Hinsicht (23), was prinzipiell die Gesprächsmöglichkeiten mit den Neurowissenschaftlern erhöhen sollte.
In einem ersten Durchgang wird von B. auf den Begriff des (traditionellen) Menschenbildes reflektiert und auf die Frage, was – bei vorliegender Unschärfe – damit eigentlich gemeint sein könnte und woher sich diese Menschenbilder speisen. Denn nur dann, wenn man sich hierüber hinreichend verständigt hat, kann auch ausgemacht werden, worauf sich ein neues Menschenbild überhaupt beziehen könnte. Dabei werden die theoriegeschichtlichen (auch religiösen) Hintergrundannahmen aufgehellt, die insbesondere in einer bestimmten Sonderstellung des Menschen gründen aufgrund von Kernpunkten wie etwa Geschöpflichkeit, Würde, Geist, Selbstbewusstsein, Rationalität und vieles mehr.
Das zweite Kapitel erörtert Fragen des Leib-Seele-Problems (Philosophie des Geistes) und der Willensfreiheit. Beim Leib-Seele-Problem quälen vor allem die alten Fragen, wie das Verhältnis beider Phänomene zueinander denkbar sein soll. Hier tauchen vor allem Fragen der »mentalen Verursachung« und das »Qualia-Problem« auf. Gegenwärtig, und so auch von B., wird eine (substanz-)dua-listische (dazu zählt auch eine epiphänomenalistische) Interpretation der Phänomene abgelehnt, was aber immer noch reichlich Spielräume bei der Bestimmung auf naturalistischer Ebene offen lässt. Das Problem der mentalen Verursachung verweist darauf, dass dann (wie bei Plato oder Descartes), wenn eine eigene nichtphysische Substanz namens Seele angenommen wird, diese aber wiederum in der physischen Welt Wirkungen hervorbringen soll (also bei Handlungen), man sich kaum einen Reim auf die Verhältnisbestimmung beider Phänomene machen kann. Wie soll eine nichtphysische Entität (Seele) in die physische Welt einwirken können – ohne dabei grundlegende physikalische Gesetze zu verletzen oder in gedankliche Aporien zu führen? Das Qualia-Problem wiederum verweist darauf, dass mentale Zustände offensichtlich nur in einer Ersten-Person-Perspektive hinreichend zugänglich sind, sich aber dem wissenschaftlichen Zugriff durch eine Dritte-Person-Perspektive zu verschließen scheinen. Dieser »gap« soll, so wird häufig argumentiert, einen reinen Physikalismus (also eine reduktive Erklärung) aushebeln (66 f.). Dieser Frage geht B. im Fortgang nicht breiter nach. Demgegenüber ist das Problem der mentalen Verursachung zentraler. Hier legt sich B. letztlich auf eine Identitätstheorie fest, die unter der Hand einen Reduktionismus zur Folge hat (77 ff.). Es wird aber sofort hinzugesetzt, dass damit keine epistemische Reduktion verbunden ist. In der Folge werden Argu mente gegen und für eine Identitätstheorie diskutiert. Im An­schluss daran wird die Debatte um Willensfreiheit skizziert, die insbesondere um die drei scheinbar grundlegenden Kriterien der Alterität, der Rationalität und der Urheberschaft kreisen. Abschließend hierzu skizziert B. ihren eigenen Standpunkt als eine naturalistische Freiheit (138 ff.), die jedoch deutliche Gemeinsamkeiten mit zahlreichen vorliegenden Konzeptionen aufweist (auch mit jener des Rezensenten).
Im Blick auf rechtliche und ethische Konsequenzen und Aspekte steht B. dafür ein, dass auch unabhängig von einem klassischen freien Willen von Verantwortlichkeit und damit auch von Schuldfähigkeit gesprochen werden kann (167), wenngleich hier weniger von Schuldzuweisungen auszugehen wäre, sondern der technisch-funktionale Aspekt von Sanktionen aufgewertet werden sollte. Insgesamt wäre mehr Wert auf den Gesichtspunkt der Prävention (also der Genese von Handlungen) zu legen und darauf, dass auch die gesellschaftlich-sozialen Verhältnisse mit dazu beitragen, dass Menschen so sind, wie sie sind. Es sollte also, um gewünschte Handlungsvollzüge in der Gesellschaft zu erreichen, nicht nur auf individueller Ebene angesetzt werden, sondern auch auf gesellschaftlicher. Diese Überlegungen werden sodann in die aktuelle Enhancement-Debatte überführt (168 ff.) und im Kontext der Natur des Menschen durchgearbeitet. Dabei spielen auch Identitäts- und Personalitätsfragen eine Rolle.
Kapitel vier greift noch einmal explizit die Kränkungsthematik auf. Dabei schließt sich B. weitgehend der Meinung an, dass ein Naturalismus nicht notwendigerweise zu einer Kränkung führen muss, Naturalismus und Menschenbild also prinzipiell vereinbar sind. Vermeintliche Kränkungen ergäben sich lediglich dort, wo Begriffe nicht hinreichend aufgeklärt werden und adäquate Klärungen durch zu undifferenzierte Herangehensweisen ausbleiben (228 ff.). Es bestehe letztlich kein Grund, sich durch neurowis-senschaftliche Forschung gekränkt zu fühlen (229), wenngleich manche traditionellen Vorstellungen und Konzepte einer Revision be­dürfen. Derartige Revisionen bedeuten aber eben nicht ihren Zusammenbruch. Hier werden die einzelnen Kernbereiche des menschlichen Selbstverständnisses noch einmal aufgerufen und die entsprechenden neurowissenschaftlichen Einwände, die als Kränkungen fungieren könnten, zurückgewiesen. Dementsprechend wird in einem knappen Schlusskapitel die Eingangsfrage nach einem neuen Menschenbild weitgehend abschlägig beantwortet, wenngleich die nötigen Revisionen an traditionellen Mo­dellen und Vorstellungen in die Richtung eines »naturalistischen Menschenbilds« weisen sollten (271).
Das vorliegende Buch ist eine sehr gute Einführung in aktu-elle Diskursprobleme, die sich durch neurowissenschaftliche Forschungen und Herausforderungen ergeben. Der Bogen ist weit ge­spannt und bietet eine Fülle von Zitaten und Informationen. An manchen Stellen mag den Laien die eine oder andere Verständnisschwierigkeit plagen. Nichtsdestotrotz wird hier ein umfangreicher Überblick und Einblick in die Materie der Neurophilosophie geboten, die darüber hinaus mit ethischen Gesichtspunkten verknüpft werden.
Wer sich darüber informieren möchte, ob wir unter gegenwärtigen Diskursbedingungen genötigt sind, ein neues Menschenbild zu etablieren, das zugleich mit Kränkungen des menschlichen Selbstverständnisses einhergeht, wird hier gute Gründe finden, dies gerade nicht zu tun. Darum sei das Buch geneigten Lesern sehr ans Herz gelegt.