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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

350–352

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Obermayer, Hans Peter

Titel/Untertitel:

Deutsche Altertumswissenschaftler im amerikanischen Exil. Eine Rekonstruktion.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XXIV, 750 S. m. 22 Abb. Geb. EUR 149,95. ISBN 978-3-11-030279-0.

Rezensent:

Konrad Hammann

»Trösten wir uns damit«, schreibt der Philosophiehistoriker und Ficino-Experte Paul Oskar Kristeller im Juli 1938 aus dem italienischen Exil seinen Eltern in Berlin, »dass es vielen noch schlechter geht und dass man uns zwar Geld und Stellungen wegnehmen kann, aber nicht unsere Kenntnisse, unseren Charakter und unseren guten Namen.« Kurz vor Weihnachten 1938 richtet der Klassische Philologe Paul Friedländer nach seiner Entlassung aus dem KZ Sachsenhausen an seinen Freund Rudolf Bultmann »nur wenige Worte (auf der Maschine m d linken Hand) (weil die rechte noch beschädigt ist). Ich bin seit einer Woche wieder zu HAUS. ES waren 5 schwere aber wichtige Wochen«. Beide Voten geben eindrücklich die Gesinnung und zugleich die existentielle Bedrängnis derjenigen deutschen Gelehrten zu erkennen, die das NS-Regime aus politischen oder rassischen Gründen aus ihren akademischen Ämtern vertrieb und in die Emigration zwang.
Den überaus beschwerlichen Weg von zehn deutschen Altertumsforschern in das amerikanische Exil hat Hans Peter Obermayer in eindringlicher Auswertung akribisch zusammengetragenen Archivmaterials rekonstruiert. Er macht für die Auswahl der in seine Monographie aufgenommenen Persönlichkeiten verschiedene Aspekte geltend, die Beschaffenheit des Quellenmaterials, die Fachzugehörigkeit der Emigranten – Kristeller als Humanismusforscher wird man freilich (trotz seines Zweitstudiums der Klassischen Philologie bei Werner Jaeger und Eduard Norden in Berlin) kaum als Altertumswissenschaftler bezeichnen können – und ihre persönlichen Beziehungen zueinander sowie den Ort ihrer beruflichen Neuetablierung (17 f.).
Im Einzelnen folgt O. den verschiedenen Etappen der Emigrationsgeschichten von vier Archäologen, fünf Klassischen Philologen und einem Philosophiehistoriker, die unbeschadet aller Besonderheiten doch strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen. Von den behandelten Archäologen konnte die 1933 entlassene Gießener Ordinaria Margarete Bieber nach einem befristeten Fellowship in Oxford schon 1934 in den USA, am Barnard College und an der Columbia University, New York, ihre Lehrtätigkeit wieder aufneh men, während der ebenfalls 1933 in den Ruhestand versetzte Münsteraner Ordinarius Karl Lehmann-Hartleben 1935 an der New York University beruflich wieder Fuß fasste. Elisabeth Jas­trow, zuletzt in Marburg als Assistentin Paul Jacobsthals tätig gewesen, emigrierte 1933 zunächst nach Italien, um dann ab 1938 an verschiedenen Museen, Colleges und Universitäten in den USA Anstellungen zu finden. Otto Brendel, selbst lutherischer Konfession, aber aufgrund der jüdischen Herkunft seiner Ehefrau 1935 aus seiner Assistentenstelle bei Ludwig Curtius am Deutschen Archäologischen Institut im Rom entlassen, versah ab 1939 eine provisorische Stelle an der Washington University, St. Louis, um nach 1941 an der Indiana University, Bloomington, sowie ab 1956 an der Co­lumbia University, New York, reguläre Lehrämter zu übernehmen.
Die seit gemeinsamen Jahren an der Münchner Universität miteinander befreundeten Klassischen Philologen Ernst Kapp und Kurt von Fritz führte die Suche nach einer gesicherten Anstellung nach mehreren Zwischenstationen schließlich an der Columbia University, New York, wieder zusammen. Kapp war wegen der vermeintlich nichtarischen Herkunft seiner Ehefrau 1937 aus seiner Hamburger Professur entlassen worden, von Fritz aus seinem Rostocker Extraordinariat, weil er 1934 die Ableistung des obligatorischen Führereides aus Gewissensgründen verweigert hatte. Die namentlich mit Kristeller verbundenen Nachwuchswissenschaftler Ernst Abrahamson und Ernst Moritz Manasse konnten sich erst nach sehr wechselhaften, teilweise turbulenten Odysseen durch Europa und die USA vergleichsweise spät beruflich etablieren, der eine an der Washington University, St. Louis, der andere am North Carolina College for Negroes, Durham, N. C.
Die früh einsetzenden Maßnahmen der Nationalsozialisten gegen jüdische Wissenschaftler nahmen Paul Oskar Kristeller schon im Juni 1933 jede Aussicht, sein von Martin Heidegger unterstütztes Habilitationsvorhaben in Deutschland abschließen zu können. So emigrierte er nach Italien, wo er zunächst in Florenz an einem Landschulheim und am Istituto Magistero sowie später, von 1935–1938, in Pisa an der Scuola Normala Superiore unterrichtete und zugleich seine Quellen- und Auslegungsstudien zu Marsilio Ficino vorantrieb. Jedoch machte die zunehmend antijüdische Gesetzgebung der Regierung Mussolini im September 1938 mit der Anordnung zur Ausweisung sämtlicher ausländischer Juden aus Italien alle Hoffnungen Kristellers zunichte, seine akademische Karriere im Ursprungsland des europäischen Humanismus fortsetzen zu können. Ein zweites Mal zur Emigration ge­zwungen, erhielt er schließlich – nach der Überwindung erheblicher Schwierigkeiten – an der Columbia University, New York, die Möglichkeit, seine Lehr- und Forschungstätigkeit fortsetzen zu können.
Schwierigkeiten anderer Art hatte der 1935 aus seiner Hallenser Professur entlassene Paul Friedländer zu überwinden. Nach seiner Entlassung aus dem KZ Sachsenhausen, die Rudolf Bultmann mit der Unterstützung Hans Lietzmanns erwirkt hatte, musste Friedländer aufgrund von Schikanen der deutschen Passbehörden lange um seine Ausreise bangen. Erst kurz vor Kriegsausbruch konnte er Deutschland verlassen, einer der Letzten, denen dies Glück noch beschieden war. In den USA fand Friedländer nach einer Übergangstätigkeit an der Johns Hopkins University, Baltimore, eine dauerhafte Anstellung an der University of California, Los Angeles, mit allerdings äußerst bescheidenen Arbeitsbedingungen.
Es gelingt O., ein eindrückliches Bild von den enormen Problemen zu zeichnen, die die aus Deutschland vertriebenen Gelehrten im Zuge ihrer Emigration und ihres beruflichen Neubeginns in den USA zu überwinden hatten. Er zeigt aber auch bis in alle Einzelheiten hinein auf, wie deutsche, englische, italienische und nicht zuletzt amerikanische Kollegen die Betroffenen unter-stützten, wie ihnen private und öffentliche Geldgeber sowie die unendlich wichtigen Hilfskomitees, das »Academic Assistance Council« in London, das »Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars« in New York und der »Oberlaender Trust« in Philadelphia, die Türen zur Wiederaufnahme der akademischen Lehrtätigkeit, überhaupt zur Sicherung der bloßen Existenz öff-neten.
O. vermittelt einen authentischen Eindruck von den Emigrationsgeschichten der deutschen Altertumsforscher insbesondere dadurch, dass er ausgiebig aus den erhaltenen Korrespondenzen zitiert. Auf diese Weise gerät nicht zuletzt die Solidarität vieler Fachvertreter mit den betroffenen Kollegen in den Blick. Ob allerdings Werner Jaeger in all diesen kollegialen Netzwerken lediglich eine Nebenrolle spielte (24–30), könnte wohl noch näher untersucht werden. Er war 1936 nicht ganz unfreiwillig – seine zweite Ehefrau war »Halbjüdin« – einem Ruf nach Chicago gefolgt. Bis auf Weiteres dürfte William Calder III seine Rolle aber zutreffend resümiert haben: »But Jaeger was not Bultmann.« (24)
Im letzten Teil der Untersuchung bietet O. noch eine Chronologie der Emigration sowie Übersichten zu den Förderern der Emigranten und ihrer finanziellen Unterstützung. Sein – mit einigen ansprechenden Fotos ausgestattetes – Buch vergegenwärtigt ein beklemmendes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jh.s und bezeugt doch auch den Anstand, die Hilfsbereitschaft und Solidarität nicht weniger Menschen.