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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

272–273

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Herms, Eilert

Titel/Untertitel:

Kirche in der Gesellschaft

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XVI, 454 S. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-150587-4.

Rezensent:

Christiane Tietz

Dieser dem Kirchenamt der EKD wegen 25-jähriger partnerschaftlicher Mitarbeit in diversen EKD-Gremien gewidmete Band versammelt Beiträge des Tübinger Theologen Eilert Herms zur Rolle der Kirche in Politik und Sozialwesen, zu kirchenstrukturellen und kirchenrechtlichen Fragen sowie zur Aufgabe der Kirche in der globalen Gegenwart. Er schließt an H.s Studien »Erfahrbare Kirche« (1990) und »Kirche für die Welt« (1995) an. Von den insgesamt 15 Beiträgen, die zwischen 1995 und 2010 entstanden sind, ist nur der knappe Schlussrückblick unveröffentlicht. Leider sind für die Zu­sammenstellung inhaltliche Überschneidungen nicht getilgt worden. Ein umfangreiches Sachregister erleichtert aber den Zu­gang.
Der Titel des Buches verdankt sich der Einsicht, dass die Kirche der Erfahrung aller als »leibhaftes Sozialgebilde in der Gesellschaft« (IX) zugänglich ist. Gleichzeitig ist die Kirche »Gewissheitsgemeinschaft der christlichen Lebensüberzeugung und des christlichen Ethos« (226). Schon in diesen Grundbestimmungen zeigt sich H.s erneutes Ansetzen bei den verschiedenen Perspektiven auf die eine Wirklichkeit, eine Verschiedenheit, die als Bereicherungsmöglichkeit aufgefasst wird, weil sich alle Perspektiven auf die eben eine geschichtliche Realität beziehen. Dieser Perspektivitätsansatz wird konsequent durchgehalten und z. B. auch dort angewandt, wo es um den toleranten Umgang von Menschen unterschiedlicher Religionen miteinander geht; sowohl sich selbst wie dem Anderen müsse diese Perspektivität und das damit verbundene eigene Bild vom anders Religiösen zugestanden werden; über die verschiedenen Perspektiven gelte es sich zu verständigen; wer hier Neutralität fordert, »derealisiert« (301) die Situa-tion.
Die Beiträge kreisen um die Frage, inwiefern zur Religion ge­sellschaftliches Engagement essentiell hinzugehört. Dass dies so ist, wird durch einen fundamentalanthropologischen Ansatz si­chergestellt: »Es gibt kein menschliches Leben, das nicht von einer Überzeugung vom ›höchsten Gut‹ angetrieben wäre, und jede dieser Überzeugungen besitzt umfassende Orientierungskraft in allen wesentlichen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens, begründet also jeweils das, was man ein ›Ethos‹ nennt.« (121) Religion ist »ein Strukturmoment des Menschseins« (XI), »ein Zug des menschlichen Daseins, der in dessen Aufbau nicht fehlen kann, für es also notwendig – und deshalb auch überall anzutreffen – ist« (56).
Weil Religion als zielwahlorientierende Gewissheit verpflichtend, orientierend und motivierend ist, ergibt sich, in gänzlicher Umdeutung des Begriffs von Robert Bellah, dass Religion notwendig »Zivilreligion« und Zivilreligion in jeder Gesellschaft notwendig ist. Zivilreligion meint für H. »Religion in ihrer gesellschaftsgestaltenden und näherhin politikgestaltenden Funktion« (67), sie ist dasjenige »soziale Ethos«, »von dem die gesamte Ordnung des Zusammenlebens getragen ist« (71). Religionen auf das rein Private zu beschränken, würde ihr Wirklichkeitsverständnis beschneiden, das sich eben auf das Ganze des Zusammenlebens bezieht. Anders als Jürgen Habermas, der dem demokratischen Prozess selbst einigende Kraft zuerkennt und die Notwendigkeit von Religion für die Gesellschaft erst dort sieht, wo diese Kraft erschlafft, versteht H. Weltanschauungsgemeinschaften als für das gesellschaftliche Zusammenleben andauernd notwendig. Ihnen den Status von Körperschaften öffentlichen Rechts zuzuerkennen, ist die sichtbare Anerkennung dieses Sachverhalts.
Kritisch wäre anzumerken, dass sich tatsächliche Gott- oder Religionslosigkeit oder eine umfassend säkularisierte Gesellschaft von hier aus weder denken noch wahrnehmen lässt. Entsprechend dem fundamentalanthropologischen Ansatz begegnen kaum Re­flexionen tatsächlicher Religionsbestände. H. spricht von dem Hinduismus, dem Islam und diagnostiziert, zum Christentum gehöre »die Differenz zwischen politischer und religiöser Gemeinschaft« (133); dass dies nicht immer so war und auch heute nicht überall so ist, wird nicht erwähnt; das vor Augen gestellte Christentum bleibt eigentümlich monolithisch.
Im Unterschied zu aktuellen Debatten um den Zusammenhang von evangelischer Freiheit und Moderne entfaltet H. die durch das Evangelium geschaffene Freiheit der Kinder Gottes als eine Freiheit, welche älter und grundlegender ist als die Neuzeit und selbst in Diktatur und Sklaverei erlebt werden kann. Instrument dieses befreienden Wirkens des Evangeliums ist die Kirche, insofern sie »die leibhafte Gegenwart des Evangeliums in der Welt« (12) ist. H. hält die Sorge vor einer »Verkirchlichung« des Christentums für absurd; denn »ein kirchenfreies Christentum […] gibt es nicht und kann es nicht geben« (13). Gerade durch ihre Evangeliumsverkündigung gestaltet die Kirche das demokratische Gemeinwesen mit, insofern sie damit, wie andere kulturelle Kräfte auch, menschliche Lebensgewissheiten kommuniziert. Glaubwürdig ist eine solche Verkündigung nur durch eine Verkündigungs praxis, die mehr ist als »Nettigkeit« (19); das Handeln der Kirche muss nach Evangelium »schmecken« (20).
Besonders interessant ist die Abhandlung über »›Leistung‹ im kirchlichen Beruf«, die differenziert versucht, den Leistungsbegriff für die Kirche fruchtbar zu machen. Gegen die gegenwärtig üblichen Beschreibungen der Kirche als Unternehmen, die H. entschieden ablehnt, macht er auch hier die Kirche als Gewissheitsgemeinschaft stark.
Der Pfarrer steht nicht der Gemeinde gegenüber, sondern ist Mandatar der Gemeindeglieder; alle stehen gemeinsam der Um­welt gegenüber. Die Kirche ist Organisation. Sie lebt nicht von einer Produktpalette, sondern von der Bezeugung von Glaubensgewissheit, wobei die Erschließung dieser Gewissheit unverfügbar ist. Für diese Bezeugung sind ganz unterschiedliche Arten von Leis­tung erforderlich, so dass sich eine einseitige Leistungsdefinition in der Kirche verbietet. Auch lässt sich für eine Reihe von kirchlichen Leistungen aufgrund der Unverfügbarkeit der Glaubensgewissheit das Erfülltsein der Gütekriterien kaum feststellen. Hilfreich sind deshalb die Festlegung übergeordneter Grundkompetenzen sowie gegenseitige Supervision.
Die Bestimmung der Kirche ganz von der Daseinsgewissheit her führt auch zur Forderung, kirchliche Gesetze und Ordnungen, auch Synodenentscheidungen sollten in einer rechtsförmigen Weise auf »ihre […] Übereinstimmung mit Schrift und Bekenntnis« (249) überprüft werden. Die Kirche müsse angesichts der Partikularität staatlichen Handelns bei den ungelösten Problemen der Schere zwischen Arm und Reich, dem Fehlen einer gerechten Sozialordnung in allen Ländern dieser Erde und einer ökologischen und friedlichen internationalen Ordnung sich öffentlich zu Wort melden und einen die universale Verantwortung in den Blick hebenden Handlungsdruck auf die Politik erzeugen.
Insgesamt ist der Band ein faszinierendes Exempel dessen, was »systematische«, d. h. alles in einen Zusammenhang stellende Theologie ist. Wie auch sonst bei Arbeiten von H. beeindrucken die Annäherung an Sachverhalte durch Unterscheidungen, die systematische Konstruktion der Argumentation sowie das sorgfältige Abwägen möglicher Einwände. Gleichzeitig wird die Lektüre durch das Bestreben H.s erschwert, jedes Satzglied inhaltlich möglichst umfassend zu bestimmen.