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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

228–230

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schottroff, Luise

Titel/Untertitel:

Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2013. 382 S. m. Abb. = Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, 7. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-17-016979-1.

Rezensent:

Florian Wilk

Luise Schottroff, Prof. i. R. für Biblische Wissenschaften in Kassel, bündelt in diesem Kommentar wesentliche Ergebnisse ihrer langjährigen Forschungsarbeit zum Werk des Paulus. Das Buch beinhaltet nach Inhaltsverzeichnis und Vorwort eine knappe Einleitung (9–14), die fortlaufende Kommentierung des Briefes, 23 (insgesamt ca. 65 Seiten umfassende) »Basisinformationen«, 13 Abbildungen, ein Verzeichnis der zitierten Literatur (353–374) und ein Stellenregister.
S. bringt das Programm der Reihe zur Geltung, »die im christ-lich-jüdischen Gespräch behandelten Themen, den feministisch-theologischen Diskurs sowie sozialgeschichtliche Fragestellungen« aufzunehmen; besonderes Gewicht hat dabei der letztgenannte Ge­sichtspunkt. Eine »Suche nach Gegnern, Streit und Lehrauseinan­dersetzungen« mache die Lektüre des Briefs »mühselig« (14); die be­handelten »Konflikte« seien »durchweg […] aus dem Leben der Gemeinde in der Gesellschaft einer römischen Großstadt entstanden« (239). Der Brief dokumentiere, wie Paulus aufgrund seiner »Berufung« (9), »die befreiende Botschaft von der Erweckung Jesu« (10) zu verbreiten, »den Weg« einer »widerständige[n] Gemeinschaft von Menschen […], die eine große Vision haben und aus ihr leben«, »mit Begeisterung und Leidenschaft« teile (7). Konkret gehe es ihm – in gemeinsamer Arbeit »mit anderen Geschwistern« (12) – um die »Befreiung vom Tun der Ungerechtigkeit unter der Herrschaft der Sünde« (10). »Christus/Messias« bezeichne ja »Gottes Gegenwart, die die Menschen aus der Sklaverei der Todesstrukturen befreit« (10); und indem »[d]ie Gemeinde […] mit all ihren Gliedern den Messias« verkörpere, baue sie »eine Gemeinschaft auf, die Gottes Gerechtigkeit verwirklicht« (11). Inmitten eines von Gewalt bestimmten Alltags müsse sie sich auch »aus den eigenen Mittäterschaften und Verwicklungen heraus[]arbeiten« (13). Leitend sei dabei die – gemeinschaftlich und je »für eine bestimmte Situation« (135) vollzogene – »Auslegung der Tora« (10), fundamental »die Sicherheit, dass Gottes Geist in ihnen wohnt« (13).
Die Kommentierung erfolgt nach Sinneinheiten gegliedert, die zwischen zwei und 16 Versen umfassen. Dabei beginnt S. jeweils mit einer kollegial weiterentwickelten Fassung ihrer für die »Bibel in gerechter Sprache« angefertigten Übersetzung (vgl. 7), erläutert, jedenfalls zumeist, in Kürze Ausgangssituation, inhaltliche Eigenart und/oder Anlage des Passus und kommentiert daraufhin (in der Regel Vers für Vers) den Aussagegehalt des Textes – vor dem Horizont der Auslegungsgeschichte und unter besonderer Beachtung traditionsgeschichtlicher Bezüge, lebensweltlicher Hintergründe, literarischer Kontexte (aus denen viel zitiert wird) sowie zentraler Motive. Öfters finden sich auch einleitende Angaben zu Thema und Aufbau einzelner Briefkapitel, einmal (zu 1Kor 8,1–11,1) eine Einführung in einen größeren Textkomplex. Die »Basisinformationen« sind grundlegenden Aspekten der brieflichen Kommunikationssituation und der paulinischen Theologie gewidmet.
Folgende interpretatorische Akzente seien notiert: a) Die Danksagung 1Kor 1,4–9 benenne »die Grundlagen […] des neuen Lebens aller Beteiligten« (21) in der Gegenwart als »Zeit der Beziehung zu Gott«, mit der die »Entmachtung der lebensfeindlichen Gewalten« (22 f.) schon erfahrbar werde. b) Die »väterliche[] Erziehungsrede« (57) 1,10–4,21 verknüpfe eine kreuzestheologisch begründete »Kritik« (33) der »Anpassung an Machtstrukturen der ›Welt‹« (68) mit »Ermutigungen« (57) der »[v]on der Geistkraft erfüllte[n] Menschen« (56), »Alternativen zum Terror des Imperiums aufzubauen« (75). c) In 1Kor 5–6 halte Paulus die Adressaten anlässlich konkreter Vorfälle dazu an, »die Heiligkeit der Gemeinde« (88) zu wahren, ihre »juristischen Kompetenzen« (96) ernst zu nehmen und »die Würde des menschlichen Körpers« (102) zu achten. d) In 1Kor 7 stelle Paulus der »gesellschaftliche[n] Praxis« einer »menschenverachtende[n] Sexualität« (115) zwei innerhalb der Gemeinde gangbare »Befreiungswege« gegenüber: »den der Selbstbeherrschung und den der dauerhaften Partnerschaft« (113). e) In 1Kor 8–10 entfalte Paulus »das Bekenntnis zu dem einen Gott, Israels Gott, in einer Gesellschaft, in der fremde Gottheiten im Alltag allgegenwärtig sind, auch und gerade beim Essen« (144) und präsentiere seine »Selbstversklavung« (176) in der »Arbeit für die Gemeinde« (156) als Beispiel für den »Verzicht auf […] messianisches Anrecht, wenn andere dadurch vom Messias weggetrieben werden« (158). f) Während 1Kor 11,2–16 eine »schrifttheologische Begründung« (196) für die gemeindliche Praxis der »Kopftracht beim Gebet« (195) biete – die »die Herrschaftsverhältnisse innerhalb der Klassengesellschaft unsichtbar« (202) mache –, kritisiere 11,17–34 die »unsolidarische Praxis einiger Glieder am Leib Christi« beim »gemeinsame[n] Christusmahl« (212), das Jesu »Martyrium« und damit »sein Leben und Handeln insgesamt« in Erinnerung rufe (233). g) 1Kor 12 bringe die »Freude über den Reichtum der Begabungen […] und die Lebendigkeit des auferstandenen Messias in der Gemeinschaft der Geschwister« (240) zur Sprache; 1Kor 13 preise »die gegenseitige Liebe« (257) zwischen Menschen und Gott als »Gegenbild zur Gesellschaft« (260). h) 1Kor 14 thematisiere im Kontext einer »vielsprachigen Stadt« die »Verwendung unterschiedlicher Muttersprachen« in der »Vollversammlung« (267) der Gemeinde; dabei sei das »radikale[] Schweigegebot für alle Frauen« (280) in 14,34–38 eine »sekundäre Einfügung« (281). i) In 1Kor 15 trete Paulus der »Bedrohung des Auferstehungsglaubens« durch den »Druck von außen« (287), »solchen ›gefährlichen Aberglauben‹ aufzugeben« (289), entgegen und verweise auf die vielfältigen »Erfahrungen mit dem lebenschaffenden Handeln Gottes mitten in einer sich selbst zerstörenden und doch wunderbaren Menschenwelt« (297). j) 1Kor 16 lasse ein »Konzept […] des Völkerevangeliums« (332) sichtbar werden, das »die ökonomische Solidarität der Völker mit dem jüdischen Volk« (333), eine Vielzahl umherreisender »Botinnen und Boten« (341) und die »Vernetzung von Gemeinden auch über größere Entfernungen hinweg« (349) einschließe.
Die Lektüre des Buchs hinterlässt einen ambivalenten Eindruck. Einerseits wirkt sie erhellend und anregend: Immer wieder deckt S. die »existentielle Not« (138) und die »soziale Erniedrigung« (286) der Adressaten als Bezugspunkte der paulinischen Aussagen auf, arbeitet die »politische Kühnheit« (30) seiner von der Thora geleiteten Arbeit »für das Leben« (177) sowie den provokanten Grundzug der von ihm empfohlenen, auf »die göttliche Würde […] aller Menschen« (211) ausgerichteten »Gemeindepraxis« im Rahmen der »soziale[n] Realität einer römischen Stadt« (208 f.) heraus und präsentiert Paulus als »Quelle der Inspiration«, sich selbst »an der Vision der Gerechtigkeit Gottes für die ganze Erde täglich zu orientieren« (7) – und zwar auch dort, wo seine »selektive Wahrnehmung« (106) der Wirklichkeit und seine Prägung durch »antike Vorstellungen«, wie sie gerade hinsichtlich der Rolle von »Frauen in der Geschlechterbeziehung« (83) zutage treten, einen Transfer »in eine neue, kontextuell reflektierte Praxis« (211) erforderlich machen. Andererseits lässt der Kommentar manche Wünsche offen. So führt der »Ansatz, […] den Text als Ganzen in seinem gesellschaftlichen Kontext zu lesen« (195), wiederholt zu einseitigen Interpretationen; die Gruppenbildung in der Gemeinde wird dabei ebenso unterbewertet wie die apostolische Autorität des Paulus als ihres Gründers (!). Zu kurz kommen die pagane Religionsgeschichte und die Philologie – wobei die Erläuterung des griechischen Wortlauts an etlichen Stellen auch in Spannung zur gebotenen Übersetzung (s. o.) steht. Fragwürdig ist die Rede von der »Einbeziehung der messianischen Gemeinde […] in das Verhältnis« (63) zwischen Gott und Israel, vom Messias als »Gattungsbegriff« (179) und von einer schon gegenwärtig erfahrbaren »Auferstehung« (325 f.).
Insgesamt stellt dieser Kommentar einen klar profilierten Beitrag zur Exegese des ersten Korintherbriefs dar.