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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

126–128

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Fiedler, Michael

Titel/Untertitel:

Strukturen und Freiräume religiöser Sozialisation.Religiöse Sozialisation und Entwicklung von Gotteskonzepten bei Kindern aus Familien im konfessionslosen Kontext Ostdeutschlands. Acht Einzelfallstudien, betrachtet im Modell von Struktur und Freiheit

Verlag:

Jena: Verlag IKS Garamond (edition paideia) 2010. 871 S. u. Beiheft m. Abb. = Kinder Erleben Theologie, 4. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-941854-13-0.

Rezensent:

Michael Domsgen

Die umfängliche Dissertation von Michael Fiedler ist Teil der Ros­tocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen, und bezieht sich auf Daten, die von Anna-Katharina Szagun über vier bis neun Jahre hinweg erhoben wurden. F. selbst geht es darum herauszufinden, »mit welchen grundsätzlichen ›Mus­tern‹ religiöser Sozialisation sich die Daten der Kinder angemessen beschreiben bzw. welche Muster sich aus ihnen selbst gewinnen lassen« (22). Dabei steht die Entwicklung von Gotteskonzeptionen im Zentrum seiner Überlegungen. Grundsätzlich geht es ihm darum, bei der Beschreibung religiöser Sozialisation »primär unabhängig von konfessioneller Bindung anzusetzen« (24). Verwirklicht sieht er das im Modell von Struktur und Freiheit, das am Anfang seiner Arbeit grundgelegt und am Ende mit Blick auf die vorher dargestellten Einzelfallstudien angewandt wird. Seiner Zielsetzung geht F. in drei Teilen nach:
Der erste Teil (31–273) widmet sich zuerst der Wahrnehmung und Entfaltung von Religiosität bei Kindern aus Familien im konfessionslosen Kontext, indem Religion und Religiosität terminologisch und empirisch zu beschreiben versucht werden. Danach lenkt F. den Blick auf die Kinder selbst, indem sie als religiöse Subjekte in den Mittelpunkt gestellt werden. Schließlich wendet er sich den Entfaltungsmöglichkeiten religiöser Potentiale zu, indem er unterschiedliche Ansätze religiöser Sozialisation vorstellt, um sie an der Familie als zentraler Sozialisationsinstanz durchzubuchstabieren. Damit nimmt er Familie im Wechselspiel von Gemeinschaftlichkeit und Individualität konsequent aus der Perspektive des Individuums, hier also des Kindes, wahr. Dass dies auch Auswirkungen auf die Beschreibung und Einschätzung des Verhältnisses von Familie und Religion bzw. Religiosität hat, wird in der umfangreichen Auseinandersetzung mit anderen Studien schnell deutlich. F. untersucht diese Studien vor dem Hintergrund seiner Schwerpunktsetzung, was nicht immer dem Selbstverständnis der anderen Untersuchungen entspricht und seinen Ausführungen einen drängenden Charakter verleiht, der gar nicht notwendig wäre, weil sich viele der benannten Abgrenzungen auch ganz an­ders interpretieren ließen. Davon abgesehen zeugen F.s Ausführungen von einer intensiven Beschäftigung mit der Materie. Deutl ich ist sein Bemühen um ein Verstehen religiöser Sozialisation zu erkennen und vorschnelle Kategorisierungen (beispielsweise durch die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft) zu vermeiden. Dies zeigt sich auch im zweiten Teil der Dissertation (275–784), in dem F. ausgewähltes empirisches Material der Rostocker Langzeitstudie auswertet. Ausführlich werden dazu die konzeptionellen und methodologischen Grundlegungen erörtert, wobei gut zum Ausdruck kommt, wie stark die Untersuchungsergebnisse mit dem Aufbau einer »verlässlichen Vertrauensbasis« (321) zusammenhängen. Die persönlichen Gespräche gewinnen laut F. gerade dort an Tiefe, wo »eine mitfühlende und sich ggf. auch einbringende Haltung der Forscherin wie eine flexible Handhabung der Leitfragen zur Voraussetzung wird« (ebd.). Vor dem Hintergrund des sokratischen Gesprächs spricht F. von einer »Art ›Hebammenfunktion‹«, so dass sich »an dieser Stelle […] selbst ein religiöser Sozialisationsprozess« (320) abzeichne. Diese Ausführungen sind von grundlegender Bedeutung, weil sie zeigen, dass die vorgelegten Un­tersuchungsergebnisse nicht nur Impulse religiöser Sozialisa-tion in der Familie widerspiegeln, sondern untrennbar mit den Im­pulsen aus der Untersuchung selbst verbunden sind. Das schmälert den Wert der Untersuchung in keiner Weise, verlangt aber nach einer dies explizit berücksichtigenden Reflexion. F. hat das im Blick und verweist auf die Notwendigkeit der »aufmerksamen Auswertung«, um zu erkennen, »wo ggf. Impulse der Forscherin für den Untersuchungsprozess (evtl. auch in unbeabsichtigter Weise zu) stark suggerierend bzw. strukturierend wirken« (321).
Sehr interessant sind die im zweiten Teil vorgelegten Einzelfallstudien, die das »Kernstück« (26) der Arbeit bilden und einen Einblick in die Entwicklungsverläufe von acht Kindern bzw. Jugendlichen (vier Mädchen und vier Jungen, vier Getaufte und vier Ungetaufte) geben. Positiv wirkt sich hier die umfangreich gewählte Forschungsmethodik aus, weil dadurch unterschiedliche Aspekte zur Geltung kommen können. Durchgehend erweist sich F. als sensibel Wahrnehmender, dem es um ein Verstehen der Heranwachsenden und ein Nachzeichnen ihrer Entwicklungen geht. Jede Studie, der auch eine eigene Bilddokumentation beigefügt ist, schließt mit einer Bilanz, die wesentliche Punkte im Entwicklungsverlauf fokussierend zusammenfasst.
Eine Verknüpfung der empirischen und konzeptionellen Perspektiven erfolgt im dritten Teil (785–841). Hier legt F. in einem ersten Schritt unter Zuhilfenahme des Modells von Struktur und Freiheit eine fokussierte Zusammenfassung der Ergebnisse der Einzelfallstudien vor. Dabei kann er die Ambivalenz von Struktur und Freiheit gut vor Augen führen und verdeutlichen, dass es auch im Feld religiöser Sozialisation um eine Balance beider Pole geht. Im Blick auf die Kirchenzugehörigkeit heißt das beispielsweise, dass ein gelingender religiöser Sozialisationsprozess »nicht zuerst von dem konfessionellen Status selbst« abhängt, »sondern von der Art und Weise, mit der die Familie sich gegenüber diesem Status verhält« (810). Insofern ist die entscheidende Frage, »ob und inwieweit die Familie in ihrer jeweiligen Situation entweder einen offeneren oder einen stärker strukturierten Kommunikationsraum bereitstellen oder mindestens darauf verweisen kann« (ebd.). Darüber hinaus verweist F. auch auf zu »exportierende Erträge« (829), die über die Anliegen der vorgelegten empirischen Untersuchung hinausgehen. Zu Recht mahnt er die Notwendigkeit weiterer em­pirischer religionssoziologischer Forschung an, die als »Wahrnehmungsschulung« (830) zu verstehen sei und jenseits von Religiosität und Kirchlichkeit »alternative Wahrnehmungsmuster« (ebd.) zu entwickeln habe. Hinsichtlich der Handlungsorientierung plädiert F. für einen Perspektivenwechsel »vom Defizit zur Chance« (833). Die Voraussetzung sieht er darin, »das paradigmatische Denkschema einer primären Koppelung von religiöser Sozialisation und konfessioneller Bindung aufzugeben« (834). Die vorrangige Herausforderung für religiöse Bildungsarbeit liege deshalb darin, für Kinder und Jugendliche »geeignete kommunikative Voraussetzungen zu schaffen –, ›dem Sprachlosen Sprache zu verleihen‹ (vgl. Szagun 2006)« (839). Dabei sei eine »methodische und theologische Sensibilität, Flexibilität und Anschlussfähigkeit gefragt« (840). Schließlich könne es nicht Ziel sein, »den anderen eine Sprache zu lehren, die sein religiöses Denken und Empfinden nicht ausdrü-cken kann oder gar vereinnahmt oder überformt« (840). Dem ist zweifelsohne zuzustimmen. Dass jedoch auch eine solche Perspektive, die (zu Recht) der Balance von Struktur und Freiheit einen besonderen Stellenwert beimisst, auf normative Setzungen und deswegen auf inhaltlich bestimmte Kriterien nicht verzichten kann, führt F. leider nicht weiter aus.
Insgesamt handelt es sich um eine anregende Arbeit, die mit viel Engagement geschrieben wurde und einen wichtigen Beitrag zur Erforschung religiöser Sozialisation im konfessionslosen Kontext liefert.