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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

118–120

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Sass, Hartmut von

Titel/Untertitel:

Gott als Ereignis des Seins. Versuch einer hermeneutischen Onto-Theologie

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XV, 387 S. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 62. Lw. EUR 114,00. ISBN 978-3-16-152751-7.

Rezensent:

Stefano Bancalari

Die Ambition, die Bedeutung und der Wert dieses spannenden Buches, ursprünglich als Habilitation an der Universität Zürich entstanden, sind kaum zu überschätzen. Anhand einer gründ-lichen und umfassenden Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen philosophisch-theologischen Diskurs nimmt sich Hartmut von Sass nichts weniger vor, als Gott anstatt nur »Gott« wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, um endlich von dem heilsamen, für den Menschen absolut entscheidenden Ereignis Gottes statt von seinen religiös-kulturellen, symbolischen und im Endeffekt gleichgültigen Vermittlungen direkt zu handeln. Auf dem ersten Blick könnte dies als eine bloße Wiederholung eines alten metaphysischen statt hermeneutischen Projekts erscheinen: Endlich wird wieder von dem wirklich existierenden Gott als höchs­tem Seienden statt bloß von seinen Interpretationen gesprochen. Und der auf das Sein und sogar auf die »Onto-Theologie« verweisende Titel kann diesen Eindruck nur verstärken. Nichts liegt aber diesem Versuch einer hermeneutischen Theologie ferner als ein metaphysisch geprägter Theismus.
Es handelt sich nicht nur um eine rhetorische, auf Ironie basierte Strategie, wenn der Vf. die herkömmliche Sprache und Fragestellung in eine ganz neue Richtung forciert, statt sie einfach zu ignorieren. Vielmehr steht oder fällt die zentrale theoretische Absicht des Buches – und in eins damit die Plausibilität des Glaubens – mit der Möglichkeit, dass sich das ganz Neue gerade im Alten und sonst nirgendwo anders sehen lässt.
Demnach ist eine richtig verstandene hermeneutische Theologie weder metaphysisch (was selbstverständlich ist) noch einfach antimetaphysisch (weil die Metaphysik irgendwie unvermeidlich ist), sondern in einem ganz bestimmten Sinne postmetaphysisch: Sie setzt die kritische Arbeit an der Metaphysik von Heidegger, Barth und Bultmann voraus (deren wechselseitige Beziehungen erscheinen hier übrigens in einem neuen Licht), kritisiert aber zugleich ihre Ambivalenz, die darin besteht, trotz aller Kritiken und Ankündigungen von dem vermeintlichen Ende der Metaphysik einen starken, wenn auch kritischen Bezug zu ihr zu bewahren. »Postmetaphysisch« heißt, dass die Metaphysik als solche und als Ganzes für die hermeneutische Theologie keine Rolle mehr spielt. Alles kommt vielmehr darauf an, die metaphysische Idee von Gott als Substanz jenseits der Welt, als »himmlisches Superwesen« (57), als Bewohner einer Hinterwelt radikal in Frage zu stellen. Infolge dieser grundverkehrten Auffassung, die »Gott zur quasi-weltlichen Zutat« erklärt, wird nämlich der Disput zwischen Glaube und Unglaube zu einer grotesken Diskussion über die Quantität der existierenden Gegenstände, als ob es die Frage wäre, »ob die Welt tatsächlich n Elemente habe oder doch eher n+1« (306). Wenn aber Gott kein Seiendes ist, kann der Glaube weder ein über einen bestimmten dieses Seiende betreffenden Sachverhalt Für-wahr-halten sein, noch irgendeine Einstellung (Liebe, Vertrauen, usw.), die Gott als intentionalen Gehalt hat. Anhand seiner sehr originellen (Über-)Interpretation der Begrifflichkeit der frühen Freiburger Vorlesungen Heideggers, und insbesondere des Begriffs des »Vollzugs«, auf der einen Seite und einer Auslegung der bedeutendsten Autoren der hermeneutischen Theologie (Fuchs, Ebeling und Jüngel) auf der anderen, arbeitet der Vf. seine Auffassung des Glaubens als »modale autonome Sehweise« (70) aus, die nicht »etwas« Anderes oder Neues sieht, sondern alles, was schon sichtbar war, neu und ganz anders sieht, d. h. coram Deo: »Der Glaube glaubt daher nicht an Gott, sondern vollzieht sich als verstehender Glaube in derjenigen Wirklichkeit, die sola fide Gott genannt wird« (244). Das hat radikale Folgen für das Verstehen von Gott, der mit dem Ereignis seines heilsamen Wirkens zusammenfällt und nicht mehr als eine außerhalb der Offenbarung bestehende Entität denkbar ist. Mit anderen Worten: Die hermeneutische Theologie muss »die referenzielle Differenz zwischen Gott und seinem Wirken fallen« lassen (88) und sich der skandalösen Frage »ohne den verstehenden Menschen kein Gott […]?« (191) aussetzen – eine Frage, die man mit einem ebenso skandalösen (aber auf keinen Fall atheistischen) »Ja« (244) beantworten muss.
Auf die Wiedergabe der Fülle reichhaltiger, feiner und vor allem innovativer Analysen, die die modale Auffassung des Glaubens mit den entsprechenden fruchtbaren Paradoxien entwickeln, muss man hier offensichtlich verzichten. Nur sei es dem Rezensent erlaubt, am Schluss auf eine gewisse Einseitigkeit hinzuweisen, deren Beseitigung das gesamte Projekt vielleicht verstärken könnte. Es fällt nämlich eine gewisse Unterschätzung der phänomenologischen Wurzeln der Hermeneutik auf, die sich in einer Fehlbegegnung mit den Erben des phänomenologischen Denkens zeigt. Levinas, Derrida und Marion (vgl. Kapitel VII) werden grundsätzlich nur als Theoretiker eines als »Alterität«, »Unmöglichkeit« und »phénomène saturé« verstandenen Ereignisses wahrgenommen, das den Horizont des Routinierten in einem bestimmten Punkt unterbricht, um etwas ganz Anderem und Neuem Platz einzuräumen. Gegen diese simplifizierte Auffassung ist es dem Vf. von einem hermeneutischen Standpunkt aus relativ einfach einzuwenden, dass ein Horizont des Vorverstandenen sowieso notwendig ist, um das immer relativ und nie absolut Neue einbrechen zu lassen. Im Gegenteil »sollte […] die unterbrechende Neuigkeit des Ereignisses zwischen verschiedenen Horizonten loziert und insofern hermeneutisch verstanden werden, als es nicht neue Gegebenheiten bringt, sondern ein neues Verstehen aller Gegebenheiten eröffnet« (267). Diesem einleuchtenden und sehr präzise formulierten Satz kann man eigentlich nur zustimmen. Man kann aber ein Zweifaches hinzufügen. Erstens: Einer ausführlicheren und sympathetischeren Auseinandersetzung mit den erwähnten Autoren würde sich diese »horizontale« und nicht »mirakelhafte« Auffassung des Ereignisses als alles andere als inkompatibel mit dem Denken von Levinas, Derrida und Marion erweisen. Man braucht nur an Begriffe wie »énigme« und »ambigüité« (Levinas), »paradoxe« (Marion) oder »double bind« (Derrida) zu denken, um zumindest die Möglichkeit zu sehen, dass es sich hier nicht um eine »neue Gegebenheit« handelt, sondern um die Zweideutigkeit dessen, was schon gegeben war und sich einer neuen »Sehweise« zugänglich macht. Zweitens und noch wichtiger: An ein Ereignis zu denken, das »zwischen verschiedenen Horizonten loziert« wird, heißt eigentlich nichts anderes, als die alte phänomenologische Frage nach der Intersubjektivität zu stellen. Ist nämlich der Horizont der subjektive Raum der Offenbarung (im phänomenologischen und zu­gleich theologischen Sinn), der sich um einen Gesichtspunkt herum entfaltet, fordert die Vervielfältigung der Horizonte eine entsprechende Vervielfältigung der Gesichtspunkte, also die Möglichkeit und die Wirklichkeit einer Inter-Subjektivität.
Eine schärfere Auswertung des wesensmäßigen Zusammenhangs zwischen Offenbarung und Intersubjektivität, oder – anders gesagt – eine stärkere Betonung der irreduziblen Pluralität der Sprechenden im Ereignis der Sprache, könnte dazu beitragen, die fruchtbare Grundidee dieses wichtigen Buchs auf eine vielleicht interessante Weise weiterzuentwickeln.