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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

62–64

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dunn, James D. G.

Titel/Untertitel:

The Oral Gospel Tradition

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2013. X, 390 S. Kart. US$ 45,00. ISBN 978-0-8028-6782-7.

Rezensent:

Rainer Riesner

James D. G. Dunn, zuletzt Lightfoot Professor of Divinity an der Universität Durham, wurde in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jh.s vor allem als einer der wichtigsten Vertreter der »New Perspective on Paul« bekannt. Danach hat er sich wieder verstärkt der Evangelien-Forschung zugewandt. Frucht dessen ist ein monumentales Werk von fast tausend Seiten, »Jesus Remembered« (2003), als erster Teil einer dreibändigen Geschichte des Urchristentums, von der inzwischen auch »Beginning from Jerusalem« (2009) erschienen ist. In der Einleitung zu »Jesus Remembered« hatte D. bereits die Bedeutung der mündlichen Überlieferung vor und neben den Evangelien betont. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes, die meist nach 2003 erschienen sind, wollen diesen Ansatz noch eingehender begründen und angesichts von Kritik verteidigen und präzisieren. Der älteste Aufsatz stammt von 1978: »Prophetic ›I‹-Sayings and the Jesus-Tradition: The Importance of Testing Prophetic Utterances within Early Christianity« (13–40). In Fortführung der Anfragen von F. Neugebauer (ZNW 53 [1962], 218–228) kritisiert D. die lange einflussreiche Annahme von R. Bultmann und E. Käsemann, urchristliche Propheten-Sprüche hätten auf breiter Front Eingang in die Jesus-Überlieferung gefunden.
Programmatisch war die »Presidential Adress« beim SNTS-Kongress von 2002 in Durham: »Altering the Default Setting: Re-en-visaging the Early Transmission of the Jesus Tradition« (NTS 49 [2003], 139–175 [hier 41–79]). Nicht nur der klassischen Formgeschichte, sondern auch einem Großteil der modernen Forschung wirft D. vor, bei der synoptischen Tradition einseitig einem »liter-ary paradigm« zu folgen. Er geht davon aus, dass Palästina eine vorwiegend mündliche Kultur war und Jesus vor allem in Dörfern Galiläas wirkte. Daraus folgt: 1. Eine mündliche Darbietung ist etwas anderes als das Lesen eines schriftlichen Textes. 2. Mündliche Tradition trägt immer Gemeinschaftscharakter. 3. Allerdings kennt man besondere Überlieferungsträger wie Älteste, Erzähler oder Lehrer. 4. In mündlicher Überlieferung gibt es kein Original eines tradierten Ausspruchs oder einer Geschichte. 5. Es liegt eine Kombination von Stabilität und Flexibilität vor. Im Anschluss an den Homer-Forscher E. A. Havelock formuliert D. »the oral prin-ciple of ›variation within the same‹« (57) oder in abgekürzter Form oft wiederholt »the same yet different«. Damit grenzt sich D. von R. Bultmanns »informal uncontrolled model« ebenso ab wie von B. Gerhardssons »formal controlled model« und schließt sich K. E. Baileys »model of informal controlled tradition« an (58 f.).
D. geht weiter von der Markus-Priorität aus und rechnet auch mit irgendeiner Art von schriftlicher Quelle Q. Darüber hinaus betont er aber, dass jeder Evangelist nicht nur Vorgängerquellen kannte, sondern auch die in den Gemeinden weit verbreitete mündliche Überlieferung. D. weist auf jene synoptischen Texte hin, die große Abweichungen enthalten. »Q1 as Oral Tradition« (80–108), »Matthew’s Awareness of Markan Redaction« (109–119) und »Matthew as Wirkungsgeschichte« (120–137) zeigen an vielen Stellen plausibel, dass die Verfasser in solchen Fällen auch mündlichen Varianten folgten. Kritisch fragen darf man allerdings, ob Matthäus wie ein moderner Literarkritiker und dann noch oft in Übereinstimmung mit Lukas markinische Redaktion erkannte und konsequent ausschied. Entsprechende Beobachtungen könnten auch die absolute Markus-Priorität erschüttern. Im Johannes-Evangelium sieht D. eine stark weiter interpretierte Form der mündlichen Jesus-Überlieferung enthalten. »John and the Oral Gospel Tradition« (138–163) und »John’s Gospel and the Oral Gospel Tradition« (164–195) nehmen den Ansatz von C. H. Dodd auf und führen ihn weiter. Der letztgenannte Artikel hätte vielleicht auch noch auf die grundlegende Arbeit von P. W. Ensor (Jesus and His ›Works‹: The Johannine Sayings in Historical Perspective, 1996) Bezug nehmen können.
»On History, Memory and Eyewitnesses: In Response to Bengt Holmberg und Samuel Byrskog« (199–212) und »Eyewitnesses and the Oral Jesus Tradition: In Dialogue with Birger Gerhardsson und Richard Bauckham« (213–229) antworten auf kritische Anfragen. D. gesteht zu, dass er den Gebrauch leicht einprägsamer Redeformen durch Jesus, die Rolle individueller Augen- und Ohrenzeugen sowie die Bedeutung des Memorierens stärker hätte betonen können. In der Tat herrscht auch nach diesen kritischen Einsprüchen das Modell einer weitgehend kollektiven Überlieferung vor, wie es Bailey von Dorfkulturen Ägyptens und des Libanon beschrieben hat (»Kenneth Bailey’s Theory of Oral Tradition: Critiquing Theodore Weeden’s Critique« [248–264]). Sicher ist auf ähnliche Weise in galiläischen und später in anderen Gemeinden von Jesus erzählt worden. Aber es ist die Frage, ob dieser Traditionsstrom die wesentliche Quelle der Evangelisten war oder nicht doch ein stärkerer Anschluss an die Tradition von Primärzeugen wie Petrus oder die Übrigen der Zwölf gesucht wurde (B. Witherington, in R. B. Stewart, Memories of Jesus: A Critical Appraisal of James D. G. Dunn’s Jesus Remembered, 2010, 197–226). Wer die Theorie des »sozialen Gedächtnisses« von M. Halbwachs auf die Evangelien anwenden möchte, der sollte zuerst D.s Kritik »Social Memory and the Oral Jesus Tradition« (230–247) lesen. J. Assmanns Unterscheidung von »kulturellem« und »kommunikativen Gedächtnis« (236 f.) trägt dem qualitativen Un­terschied zwischen den Erinnerungen der Erlebnisgeneration und denen aller späteren Generationen Rechnung.
Innerhalb der Jesus-Forschung gehört D. eher zur konservativen Seite des Spektrums. Er weigert sich in »Remembering Jesus: How the Quest of the Historical Jesus Lost Its Way« (267–289), eine Kluft zwischen dem historischen und dem geglaubten Jesus aufzureißen. Wir besitzen nur Kenntnis von ihm, weil er auf seine ersten Hörer und Hörerinnen und unter ihnen besonders auf die Jünger einen »impact« hatte. Mit anderen Worten, ohne dass Menschen Jesus Glauben schenkten, wäre keine Überlieferung über ihn in Gang gekommen. Deren Weg fasst noch einmal »Between Jesus and the Gospels« (290–312) zusammen. Eine vom Heiligen Geist inspirierte »living tradition« sieht D. nicht nur hinter den Evangelien, sondern in allen Schriften des Neuen Testaments, bei ihrer Kanonisierung und ihrer Interpretation bis heute wirksam (»The His-tory of the Tradition [New Testament]«, 313–363). Dabei kommt er, dogmatisch gesprochen, in die Nähe einer revelatio continua (360). Durch das Konzept der »Living Tradition« (364–380) sieht D. im letzten, H. Wansbrough OSB gewidmeten Beitrag auch den Gegensatz zwischen der Betonung der abgeschlossenen Heiligen Schrift im Protestantismus und ihrer normativen Interpretation durch Tradition und Lehramt im Katholizismus als möglicherweise aufgehoben an.
Wie bei einer Aufsatzsammlung kaum zu vermeiden, gibt es eine Reihe von Überschneidungen. Vielleicht hätte auf ein oder zwei Aufsätze verzichtet werden können zugunsten der nicht nur für deutsche Leser wichtigen Debatte zwischen D. und J. Schröter (ZNT 20 [2007], 46–61). Aber es ist auf jeden Fall sehr wertvoll, herausfordernde und weiterführende Beiträge eines der einflussreichsten gegenwärtigen Exegeten in einem Band vereinigt zur Hand zu haben.