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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

42–44

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Starr, S. Frederick

Titel/Untertitel:

Lost Enlightenment. Central Asia’s Golden Age from the Arab Conquest to Tamerlane

Verlag:

Princeton u. a.: Princeton University Press 2013. 634 S. m. Abb. u. Ktn. Lw. US$ 39,50. ISBN 978-0-691-15773-3.

Rezensent:

Jobst Reller

Frederick Starr, ursprünglich klassischer Archäologe, ist Gründungsvorsitzender des Zentralasien-Kaukasus Institutes und des Studienprogramms »Seidenstraße« an der John Hopkins School of Advanced International Studies bzw. dem Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik in Stockholm. Einleitend bemerkt er, dass annähernd 20 Jahre Forschungsarbeit zur frühmittelalter-lichen Geschichte des heute in verschiedene Nationalstaaten zersplitterten bzw. zu China gehörigen zentralasiatischen Kulturraums der Veröffentlichung zugrunde liegen. Modell war die Ar­beit von Joseph Needham über »Science and Civilization in China« in 27 Bänden. Dass S. eine faszinierende Zusammenschau der Kulturgeschichte des zentralasiatischen Raums gelungen ist, der heute eher als unterentwickeltes Schlusslicht gelten würde, zeigt schon die erste Lektüre. Kritisch einzuwenden ist allerdings auch, dass die Eindringtiefe in die wissenschaftliche Detaildiskussion mitunter nicht weit reicht.
Zur christlich-syrischen Übersetzungstätigkeit in Bagdad im 9. Jh. fällt z. B. nicht der Name von Hunayn ibn-Ishak. Auch ein Satz (469) wie dieser »Chris­tianity briefly revived under Mongol rule, but without producing significant thinkers or writers.« Dies Urteil wird Scholastikern wie Gregorius Abu l-Faradj, genannt bar-Hebräus, oder Literaturgeschichtlern wie Abdischo bar-Berika aus der Zeit der sogenannten Syrischen Renaissance nicht gerecht. Im Anmerkungsapparat wird oft auf enzyklopädische Gesamtdarstellungen verwiesen, über die Spezialliteratur dann aufzufinden ist. Mitunter verstellt möglicherweise auch das Erkenntnisinteresse S.s an einer »verlorenen Aufklärung«, die ihr Modell aus dem Europa des 17./18. Jh.s gewinnt, die umfassende Wahrnehmung. Der jüdischstämmige, später zum Islam bekehrte nestorianische Christ Ali ibn Sahl Rabban al-Tabari († 870) wird im Bezug auf seine Leistungen zu Mathematik und Medizin mehrfach erwähnt, nicht jedoch der klassische Kommentator des Korans gleichen Namens Tabari († 922, vgl. aber 239.354).
So ergibt sich eher ein faszinierendes perspektivisches Ausschnitts- als ein Gesamtbild zentralasiatischer Kultur unter den verschiedenen Reichsbildungen der Sassaniden, Abbasiden, Fatimiden, Samaniden, Turkvölkern, Seldschuken und Mongolen.
Nach Biogrammen von Hauptakteuren (XXI–XXX) und einer Zeittafel (XXXI–XXXVII) stellt S. zunächst die Vorgeschichte der zentralasiatischen Stadtkultur vor der arabischen Eroberung dar (Kapitel 1–3: 1–100). Interessant ist der im Hellenismus weit nach Osten reichende Einfluss griechischer Kultur, der sich bis heute an Resten eines griechischen Amphitheaters und griechischen In­schriften in Ai-Khanoum an der Grenze von Afghanistan zu Tadschikistan ablesen lässt (77 ff.). Der griechische Einfluss wiederum führte zur Ausbildung einer eigenständigen Darstellung Buddhas im Philosophengewand. Auch Mission ging von etwa 100 v. Chr. zunächst von buddhistischen Mönchen aus, ebenso eine rege Übersetzungstätigkeit buddhistischer Schriften (86 f.). Einen großen Einschnitt bildet die arabische Eroberung Zentralasiens nur wenige Jahre nach Mohammeds Tod – teilweise gegen großen Widerstand (101 ff.). Die afghanische Familie der Barmak wurde in der Eigenschaft als Wesir der abbasidischen Kalifen in der neu gegründeten Hauptstadt Bagdad zu Initiatoren kultureller Rezeption in vielen Fachbereichen. S. zeigt die Bedeutung der zentral asiatischen Stadtoasen Merw, Buchara, Balkh usf. für die Pflege von Wissenschaft und Kultur auch im omayadischen und abbasidischen Kalifat auf. So, wie die abbasidische Dynastie von Zentralasien aus das omayadische Kalifat ablöste, wurden auch zentralasiatische Wissenschaftler in Bagdad tätig. Mit dem Niedergang des abbasidischen Reiches bildete sich Ende des 9. Jh.s das Vasallenreich der Samaniden als neues kulturelles Zentrum heraus (225 ff.). Ende des 10. Jh.s folgt eine türkischstämmige Eroberung, die mit Mahmud von Kashgar den Verfasser einer Ethnologie der Turkvölker hervorbringt (303 ff.). Mahmud von Ghazni, der türkischstämmige Gewaltherrscher von Ghazni in Afghanistan über Zentralasien und Indien (332 ff.), steht auf der Grenze zum kul-turellen Niedergang, verbunden mit erstarkender sunnitischer Orthodoxie. Aber auch er suchte die Philosophen al-Biruni und ibn-Sina (lat. Avicenna) noch an sich zu binden. Mit der Herrschaft der Seldschuken (381 ff.), der Mongolen (436 ff.) und Timur Lenks, auch Tamerlans (478 ff.), beschließt S. die Darstellung.
Was S. als aufklärerische Blüte versteht, soll exemplarisch an zwei Größen des samanidischen Reichs vorgeführt werden, ibn-Sina (980–1037) und al-Biruni (973–1048). Ibn-Sina stammte aus einer afghanischen Familie aus Balkh in Afghanistan, die in samanidischen Diensten in die Gegend Bucharas kam (255 ff.). Ibn-Sina, bekannt durch den »Kanon«, eine medizinische Enzyklopädie, verband Ratio und Intuition. Biruni erwog z. B. astronomische Lösungen eliptischer Umlaufbahnen, wie sie später Johannes Kepler bestätigte (261), unterschied streng zwischen Glaube und experimenteller Vernunft (264). Mit dem aus Tus im heutigen Iran stammenden Philosophen und Sufi Mystiker al-Ghazali (1058–1111) beginnt nach S. der Niedergang, insofern als Ghazali um der Ge­wissheit willen gegen die Philosophie Stellung nimmt (416) und als Leiter einer sunnitischen Theologenschule in Bagdad die Todesstrafe für Apostaten begründet (418). All das hinderte ja nicht, dass die westliche Scholastik eines Thomas von Aquin Avicenna, Averroes und auch Alghazel nutzen konnte. Auch der schon erwähnte bar-Hebräus nutzte den für die sunnitische Reichsorthodoxie unter den Seldschuken wichtigen al-Ghazali in seinem Traktat über die Seele umfassend. Ein umfangreiches Register von Personen und Sachen schließt das Werk ab. In der Zusammenschau von Philosophie, Naturwissenschaft, Religion, Medizin, Belletristik, Architektur und Kunst ist S. ein faszinierendes Überblickswerk zu doch immerhin 400 Jahren vielfältiger Kultur Zentralasiens unter dem Islam gelungen. Am meisten fasziniert, dass S. belegen kann, dass die kulturellen Zentren nicht Damaskus oder Bagdad hießen, sondern z. B. Merw, Nischapur, Gurganj, Buchara, Balkh.