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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1490–1492

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gill, Christopher, and François Renaud[Eds.]

Titel/Untertitel:

Hermeneutic Philosophy and Plato. Gadamer’s Response to the Philebus.

Verlag:

Sankt Augustin: Academia Verlag 2010. 269 S. = Studies in Ancient Philosophy, 10. Geb. EUR 45,00. ISBN 978-3-89665-507-3.

Rezensent:

Jure Zovko

Der von den prominenten Platonikern Christopher Gill und François Renaud herausgegebene Sammelband enthält Beiträge des Platon-Kongresses in Dublin über den Spätdialog Philebos. Gadamer hat seine einflussreiche Abhandlung Platons dialektische Ethik. Phänomenologische Interpretation zu Philebos 1931 veröffentlicht, die unter Betreuung von Martin Heidegger und Paul Friedländer 1928 an der Marburger Universität als Habilitation angenommen wurde. Da auch der einflussreiche amerikanische postanalytische Philosoph Donald Davidson 1949 an der University of Harvard mit einer Dissertation über Plato’s Philebos promoviert wurde, wird im dritten Teil des Buches die Aktualität der Platon-Interpretation beider Denker vom heutigen Standpunkt der Forschung ergründet und ein Vergleich zwischen Gadamers und Davidsons Deutung der Platonischen Philosophie gezogen.
Im ersten Teil des Bandes wird Gadamers philosophische Hermeneutik im Kontext seiner Philebos-Auslegung ausführlich diskutiert. Robert J. Dostal hebt dabei hervor, dass Gadamer die dialektisch-dialogische Dimension der Platonischen Philosophie entdeckt hat, die sein hermeneutisches Werk enorm beeinflusst hat, aber merkt gleichzeitig an, dass Gadamer ein verkappter Aristoteliker war, der die Immanenz der Ideen (Formen) als Grundlage für die Deutung der Platonischen Philosophie genommen hat (30 f.). Yvon Lafrance behauptet, dass Gadamer Heideggers philosophische Terminologie (das Vorverständnis, Dasein, das In-der-Welt-Sein, ontologische Differenz, »Rede«, Wahrheit als Erschlossenheit) geschickt in den Platonischen philosophischen Kontext hinein interpretiert und bei der Auslegung der Intention von Platons Philosophie im Philebos eindrucksvoll angewendet hat. Auch die Seele wird im Geiste der Heideggerschen Fundamentalontologie als Fä­higkeit nach etwas zu verlangen gedeutet, wobei sie sich primär im Phileb0s auf Maß, Schönheit und Wahrheit richtet.
Im zweiten Teil des Sammelbandes wird Gadamers zwiespältiges Verhältnis zur »ungeschriebene Lehre« der sogenannten Tübinger Schule erörtert. Sylvain Delcomminette behauptet, dass die Intention von Gadamers phänomenologisch-hermeneutischer Deutung vom Dialog Philebos nicht die hermeneutische Rekonstruktion der Ge­dankenentwicklung Platons, sondern primär die sachliche Wahrheit seiner Philosophie war. Gadamer hat erforscht, inwiefern Platons Denken einen Anstoß zum Weiterdenken in der Zeit der Heideggerschen temporalen Fundamentalontologie bieten kann (107). Walter Mesch fokussiert sich auf die Deutung der falschen Lust als grundlose Hoffnung in Philebos (36c–41b) und weist nach, dass das Selbstverständnis des jeweiligen Daseins durch den Bezug auf die Ideen vollzogen wird. Das angestrebte gute Leben wird als eine Mischung von Lust und Vernunft, der Grenze (peras) und des Unbegrenzten (apeiron) verstanden (122). Dementsprechend wird auch die Rolle der Dialektik in der Platonischen Philosophie valorisiert.
Jean Grondin analysiert Gadamers Beitrag »Platons ungeschriebene Dialektik« im Kontext der ungeschriebenen Lehre der Tübinger Schule (Hans Joachim Krämer, Konrad Gaiser) und weist nach, wie Gadamer hinsichtlich dieser Platon-Deutung ziemlich zurückhaltend war. Wenn man die Lebendigkeit der Dialoge mit den Rekonstruktionsversuchen der Platonischen esoterischen Lehre vergleicht, die Krämer und Gaiser aus den sekundären Quellen (Aristoxenos, Speusippos, Aristoteles) bewerkstelligt haben, erinnert eine solche characteristica universalis der Platonischen Philosophie nach Gadamers Urteil an die scholastische Philosophie von Christian Wolff. H.-J. Krämer wirft Gadamer vor, dass er einen »Finitismus« in der kontinentaleuropäischen Platon-Interpretation etabliert habe, welcher von den Frühromantikern F. Schlegel und F. Schleiermacher erstmals vertreten wurde. Vor allem bei der Auslegung der zentralen Philosopheme des Platonischen Denkens, wie der Idee des Guten und des Höchsten, kommt der frühromantische Mythos vom Platon-Agnostiker zum Ausdruck. Gadamers Verhältnis zur Prinzipienphilosophie der Tübinger Platoniker ist auch Thema des Beitrags von Thomas Alexander Szlezák, der auch Befürworter und Anhänger der Tübinger Schule war. Szlezák be­hauptet, dass Gadamer für die ungeschriebene Überlieferung viel aufgeschlossener war als seine hermeneutischen Vorgänger. Gadamer habe sich gegen die einseitige Anwendung vom Prinzip der sola scriptura in der Deutung der Platonischen Philosophie aus-gesprochen, vor allem weil Platons Dialoge »in ihrem Mitteilungsanspruch bewusst zurückhaltend sind« (160). Als zuverlässiger Philologe weist Szlezák nach, wie ungenau Gadamer die berühmte Stelle im Philebos interpretiert, wo behauptet wird, dass sich das Gute selbst in das Schöne geflüchtet hat (64e5). Platonische Inten-tion war, zu zeigen, so Szlezák, dass das Gute selbst für uns eine Zu­flucht bei dem Schönen findet, wie Plotin dies richtig gedeutet hat.
Im dritten Teil der Proceedings werden Gadamers und Davidsons Interpretation des Philebos verglichen und dabei wird aufgezeigt, dass trotz der unterschiedlichen Forschungsmotivationen etliche Berührungspunkte zwischen ihnen bestehen. Francisco J. Gonzalez weist auf, dass Gadamers phänomenologische Deutung des Dialogs eine Reflexion über den Dialog darstellt, die gleichwohl die dialektische Suche nach der Wahrheit und der besten Form des Lebens einbezieht. Das menschliche Leben ist nach Gadamers Urteil ipso facto dialektisch, weil es sich als das Selbe in der Zeitlichkeit erweist und somit mit der Identität der Idee in der Differenz verglichen wird. John J. Cleary sieht erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen Gadamers dialogischer Reflexion (dialegesthai) und der Auslegung des Dialogs bei Davidson: »Both illustrates and describes how we come to a shared understanding« (194). Die Tatsache, dass Gadamer eine Harmonie zwischen dem Platonischen Logos und dem ergon ergründet, ergibt auch einen Anlass zum Vergleich mit Davidsons »Mental Events«. Rafael Ferber analysiert Davidsons Bedeutungs- und Wahrheitstheorie (sein Slogan: »Truth without confrontation«) im Kontext der Gadamerschen Deutung des Logos der Dialektik, der eine Konsensbildung hinsichtlich der ethischen Fragen ergründet. Ferber behauptet, dass Gadamers Reflexion über die Platonische ethische Dialektik Davidsons Theorie der Triangulation antizipiert hat. Davidsons »shared word« setzt eine Triangulation von mindestens zwei Sprechern und einem gemeinsamen »Gegenstand«, den verbindlichen Ideen, voraus (227).
Der lesenswerte Band eröffnet weitreichende Möglichkeiten, den Dialog zwischen der hermeneutischen und der Platonischen Philosophie zu vertiefen.