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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1471–1473

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Brakelmann, Günter

Titel/Untertitel:

Kreuz und Hakenkreuz. Christliche Pfadfinderschaft und Nationalsozialismus in den Jahren 1933/1934.

Verlag:

Waltrop: Hartmut Spenner 2013. 325 S. Kart. EUR 24,80. ISBN 978-3-89991-142-8.

Rezensent:

Thomas Martin Schneider

Günter Brakelmann, bis 1996 Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, veröffentlichte zuletzt u. a. Forschungen über den Kreisauer Kreis und über Fritz Thyssen sowie ein Arbeitsbuch über den »Weg nach Barmen«. Nun wandte er sich der Geschichte der Christlichen Pfadfinderschaft (CP) in den beiden Anfangsjahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu. Dazu motivierte B., der in der Nachkriegszeit selbst jahrelang in der CP mitarbeitete, auch ein autobiographisches Interesse (auf ein unveröffentlichtes Manuskript B.s über seine eigene Pfadfinderzeit wird verschiedentlich hingewiesen). Leider ist der Band an entlegenem Ort erschienen; das Layout ist bescheiden.
Bei dem Band handelt es sich im Wesentlichen um eine Dis-kurs­analyse von Artikeln der Verbandszeitschrift »Auf neuem Pfad« der Jahrgänge 1933 und 1934. Immer wieder werden längere Passagen der Artikel im Kursivdruck wortwörtlich dokumentiert und an­schließend kurz kommentiert. Auf S. 222 bezeichnet B. seine streng chronologisch aufgebaute Arbeit selbst als »Dokumenta-tion«. Angefügt sind freilich noch eine detaillierte »Chronologie der Christlichen Pfadfinderschaft 1933–1934 im Kontext der nationalen und kirchlichen Geschichte« (227–256) sowie eine umfangreiche Bibliographie (257–325). Im Interesse der Leserfreundlichkeit wäre es wünschenswert gewesen, wenn zu Beginn kurz die Entstehungsgeschichte der CP dargestellt und deren führende Vertreter genauer – B. nennt meist nur ganz wenige biographische Fakten – vorgestellt worden wären. Ähnliches gilt für den nicht unkomplizierten allgemeinen historischen und kirchenhistorischen Kontext, dessen Kenntnis vielfach schlicht vorausgesetzt wird.
Sehr wohltuend ist, dass B. sich mit eigenen Wertungen stark zurückhält. Er beherzigt vorbildlich das, was er schon im kurzen Vorwort als »[u]nsere Aufgabe« beschrieben hat: »Geboten ist weder das große Scherbengericht über unsere Pfadfinder in einer Krisen- und Entscheidungszeit noch die große alles verstehende und alles entschuldigende Verteidigung« (10). Indem er die damaligen maßgeblichen Akteure weitgehend selbst zu Wort kommen lässt und sich in seinen Kommentaren weitgehend auf eine behutsame kirchenpolitische und geistesgeschichtliche historische Einordnung beschränkt, führt er sehr eindrücklich und differenziert ein in die Gedankenwelt und Mentalität der führenden CP-Vertreter, insbesondere des »Reichspfadfinders« Pfarrer Friedrich Duensing. Heutige Leserinnen und Leser, die ja zumeist völlig verständnislos dem Phänomen gegenüberstehen, dass selbst Christen damals so rasch, so zahlreich und so unkritisch den Versprechungen der Nationalsozialisten Glauben schenkten und sie unterstützten, erfahren, wie stark die Sogwirkung des damaligen Zeitgeistes war. Wesentliche Einstellungen, die die nationalsozialistische Gewaltherrschaft be­günstigt und mit hervorgebracht haben, wurden auch von den CP-Vertretern unhinterfragt geteilt. Zu nennen sind in diesem Zu­sammenhang u. a. das als Trauma erlebte und entsprechend gewertete Ende des Ersten Weltkrieges, die Ablehnung der pluralistischen Gesellschaft und der demokratischen Ordnung der als wertdiffus und dekadent angesehenen »Weimarer Republik«, der mit Angst gepaarte Widerwillen und die Feindschaft gegen den als unchristlich bzw. widerchristlich empfundenen Liberalismus und Sozialismus, besonders in seiner extremen und ja auch tatsächlich kirchen- und religionsfeindlichen bolschewistischen Form. Dazu gehörte auch ein gehöriges Maß an Nationalismus und an hauptsächlich kulturell und wirtschaftlich motivierter Judenfeindschaft (vgl. hierzu 33 ff.). Das verbindende Element zwischen dem Denken der Pfadfinder und dem Nationalsozialismus war nach B. ein »radikale[r] Antimodernismus […] aus dem Geist der politischen Romantik« (87). So zutreffend dies einerseits sicherlich ist, so fragt sich andererseits, ob der Nationalsozialismus nicht doch auch moderne Elemente enthielt, die in konservativen christlichen Kreisen frühzeitig kritisch gesehen wurden. Ist es ganz falsch, wenn von Seiten eines Pfadfindervertreters im Frühjahr 1932 die »Irrlehren eines Rosenberg«, der in seinem »Mythus« u. a. gegen die christliche Sa­tisfaktionslehre mit der Rede vom Opfertod Jesu Christi polemisiert hatte, als »liberalistisch« charakterisiert wurden (vgl. 44)?
Ganz allmählich wird vor dem Hintergrund der im Dezember 1933 verfügten Eingliederung der Evangelischen Jugend in die Hitlerjugend die zunehmende Entfremdung zwischen Pfadfindern und Nationalsozialismus bzw. der nationalsozialistischen Kirchen­partei der »Deutschen Christen« (DC) und der von dieser do­minierten Reichskirchenführung deutlich. Hatte man von Seiten der CP gegen eine korporative Eingliederung zunächst nichts einzuwenden und erhoffte man sich dadurch sogar neue Chancen der Volksmission (vgl. 113 ff.), musste man dann ernüchtert feststellen, dass der tatsächliche Eingliederungsvertrag zwischen Reichs-jugendführer Baldur von Schirach und dem DC-Reichsbischof Ludwig Müller einer völligen Gleichschaltung und damit Auflösung der evangelischen Jugendverbände gleichkam. Die Gefährdung der institutionellen Eigenständigkeit und mehr noch des christlichen Propriums trieb die CP-Leitung schließlich an die Seite der sich formierenden bekenntniskirchlichen Opposition. B.s plausibles differenziertes Schlussresümee lautet:
»Der Befund ist ein doppelter: Die CP hat an dem Aufkommen der antidemokratischen Kräfte ihren Anteil gehabt. Sie hat den Untergang der Republik gefeiert. Sie hat den Aufbau eines totalitären Systems mit gewollt. Diese politische Mitverantwortung mit all den späteren Folgen hat sie mit Millionen von Deutschen gehabt. Aber sie war nie bereit, ihre Gewissensfreiheit auf dem Altar des totalitären Weltanschauungsstaates zu bringen. […] Von ihrer Bindung an das Wort Gottes und von ihrer Bindung an die altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnisse her hat sie jedem Versuch einer deutsch-christlichen oder einer nationalsozialistischen Ersatzreligion widerstanden. Diese eindeutige Haltung in Glaubens- und Gewissensfragen bildet angesichts des nationalsozialistischen Griffs auf die Ganzheit des Menschen nach Leib, Seele und Geist ein widerständiges Element im Totalitarismus. Es hat sich daraus bei den meisten CPern kein politischer Widerstand entwickelt, aber ihre Widerständigkeit war ihr Beitrag, den christlichen Glauben nicht einem Abgott zu opfern. Es war schwer, aber am Ende hat die Christusnachfolge über die Hitlergefolgschaft gesiegt – trotz aller schuldhaften Verirrungen.« (226)
B. ist auch zuzustimmen, wenn er die Wirkung der sogenannten lutherischen Zweireichelehre als ambivalent beschreibt. Zum einen half sie fatalerweise, den wachsenden – uns heute geradezu schizophren anmutenden – Gegensatz zwischen den traditionellen christlichen Glaubensüberzeugungen und kirchlichen Praktiken einerseits und der nationalsozialistischen Ideologie und Realpolitik andererseits aushalten zu können, zum anderen sensibilisierte sie glücklicherweise für die Gefahren der unerlaubten Einmischung des totalitären Staates in die Belange der Kirche und des christlichen Glaubens und Gewissens.