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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1468–1471

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schreiner, Susan E.

Titel/Untertitel:

Are You Alone Wise? The Search for Certainty in the Early Modern Era.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2011. XVI, 480 S. = Oxford Studies in Historical Theology. Lw. £ 52,00. ISBN 978-0-19-531342-0.

Rezensent:

Markus Wriedt

Heiko A. Oberman charakterisierte in den 1970er Jahren das Spätmittelalter als eine Zeit »in search for security«. Alain Ehrenberg diagnostizierte knapp 15 Jahre später mit methodisch und heuris­tisch wie fachdisziplinär völlig verschiedener Fragestellung für die Gegenwart eine allgemeine gesellschaftliche Depression und sah das »erschöpfte Selbst« als Folge fortschreitender Individualisierung, subjektiver Identitätsbestimmung und dem daraus folgenden steten Zwang zur differenzierten Selbstwahrnehmung. Da­zwischen, also für jene Epoche, die gemeinhin mit »Neuzeit« bezeichnet wird, also den Geburtsstunden ebenjener sich schicksalhaft auswirkenden Moderne, fragt nunmehr Susan Schreiner nach Sicherheit. Sie beschränkt diese Suche freilich auf die Zeit der frühen Neuzeit und bestimmt damit das 16. und 17. Jh. als die wirkmächtige Periode, aus der sich weitere Entwicklungen bis hin zur soziologischen Feststellung des französischen Gesellschaftstheoretikers ergeben. Und nicht zuletzt Martin Luther wird als theologischer Reformator unter anderem für seine Wiederentdeckung der in Christus begründeten und im Glauben ergriffenen Heilsgewissheit verehrt. Unabhängig von der je eigenen Kritikwürdigkeit all dieser Thesen ist es doch bemerkenswert, dass für einen langen Zeitraum die Frage nach Vergewisserung, Sicherheit, Geborgenheit angesichts zahlloser Anfechtungen und Gefährdungen bestimmend ist. Gerade darin liegt aber auch das Problem. Insofern diese Sorge – und Suche – nahezu für alle Zeiten der Geschichte im Allgemeinen und der Religions- und Kirchengeschichte im Besonderen virulent gewesen ist, taugt sie kaum als Epochensignet oder zeitspezifisches Charakteristikum.
S. ist sich dieser Problematik nur zu bewusst und artikuliert die gegenwärtige Frage nach Sicherheit als erkenntnisleitenden Fokus einer eingehenden Relektüre hinlänglich bekannter Textzeugnisse vom Spätmittelalter bis in die Zeit ausgehender Konfessionalisierung. Ihr soll in den dem Vorwort folgenden sieben Kapiteln dieser Fokus zu einer ganzheitlichen Schau der theologischen Entwicklungen des Reformationszeitalters dienen. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist dabei die wiederholt geäußerte Sorge nicht nur theologisch beheimateter Reformationshistoriker, dass unter der Flut von sozialgeschichtlichen, wirtschaftshistorischen, kulturwissenschaftlichen und anderweitigen Detailforschungen zum Ge­schehen der tiefgreifenden Glaubensreflexion im 16. Jh. de-ren eminent theologische und religiöse Bedeutung verloren zu gehen droht. Die moderne, gleichsam säkular anmutende Frage nach Sicherheit erweist sich dabei als Brennpunkt in der Linse historiographischer Reformationsbemächtigung.
Trotz des Bemühens um eine Wiederentdeckung der Theologie wird das vorgelegte Buch von S. nicht als »theologisches« gewertet. Ihr geht es vielmehr um den Weg, auf welchem die Frage nach persönlicher Sicherheit Theologie, Polemik und das gesamte litera-rische Schaffen der beschriebenen Epoche bestimmt. Von Ockham bis Shakespeare reicht dabei der weitgespannte Rahmen der be­rücksichtigen Zeugnisse, die mithin nur exemplarisch und in großer Einzigartigkeit zusammengestellt werden. Dem Aufweis der bleibenden Kontinuität des Themas »Sicherheit« in einer be­sonderen Qualität gegenüber der Epoche der Renaissance und des 17. Jh.s dient das erste Kapitel. S. sucht zu zeigen, »that it was primarily in the Reformation and developments within the sixteenth century that we find the first early modern search for certitude« (IX). Dieser qualitative Unterschied wird durch Aufnahme auch spätmittelalterlicher Zeugnisse des Nominalismus eines William von Ockham oder der humanistischen Geschichtsbewältigung deutlich ge­macht. Das erste Kapitel lehnt sich dabei gleichermaßen stark an Hans Blumenbergs »Legitimität der Neuzeit« wie auch die klassisch zu nennenden Untersuchungen zu Renaissance und Humanismus von Oberman, Rummel und anderen aus den 1970er und 1980er Jahren an. Leider fehlen in dieser Auswahl allerdings die nicht minder wichtigen Untersuchungen von Trinckaus, Spitz und Garin.
Der infolge der Reformation erstarkende Streit um die Heilsgewissheit und die Sicherheit autoritativer Äußerungen bestimmt sodann das zweite und dritte Kapitel. Darin thematisiert S. die verschiedenen Antworten, die sich aus Anfragen der spiritualistischen Abspaltungen sowie dem Streit um die biblische Autorität zwischen, wie sie es nennt, exegetischer und hermeneutischer Methode ergeben. Neben den Hauptvertretern der reformatorischen Theologie und ihrer reformierten Transformation, Luther, Zwingli und Calvin, werden die Dissidenten von Karlstadt bis Schwenkfeldt bemüht und eine Zusammenschau der Forschung des ausgehenden 20. Jh.s im Fokus der Fragestellung zusammengefasst.
Das vierte Kapitel interpretiert die tridentinische Reform als römische Antwort auf die im Kontext der Reformation gestellten Fragen nach persönlicher Heilsgewissheit und einer allgemein gesicherten Autorität. Neben den Quellen des Konzils und der be­kannten Kontroverstheologen Johannes Eck, Thomas de Vio Cajetanus und des humanistisch gesinnten Thomas Morus sind es hier vor allem die Arbeiten von Gillian R. Evans und David Biagchi, die stimulierend auf den Frageansatz von S. eingewirkt haben. Sie schreibt darin freilich auch die These fort, dass die ekklesiologisch zugespitzte Antwort des römischen Katholizismus letztlich die individual-vergewissernden Anfragen Luthers nicht recht treffen und insofern das Problem der fortschreitenden Pluralisierung des lateinischen Christentums überhaupt nicht erkannt worden ist.
Das fünfte Kapitel nimmt die ebenfalls bereits von Heiko A. Oberman in den 1970er Jahren aufgenommene Beobachtung nach einer verstärkten Bedeutung des »experientia«-Begriffes zum An­lass, nach der Erfahrung als einem Sicherungsanker persönlicher Gewissheit zu fragen. S. leitet diesen allerdings bis zu Johannes Gerson zurück und stimmt insofern mit neueren Forschungen, die den Anbruch experimentellen Denkens bis in das Zeitalter der Hochscholastik zurückverfolgen zu können glauben (etwa Johannes Fried), durchaus überein.
Die Frage nach einer geeigneten Hermeneutik des Wirkens des Heiligen Geistes wird auf der dunklen Folie der Dämonologie bei Luther, Müntzer, aber auch Ignatius und in der Mystik einer Theresa von Avila diskutiert. Daraus entwickelt sich im siebten Kapitel die Frage nach einem angemessenen Umgang mit dem Begriff der Realität; eine Hauptreferenz für gesicherte Erkenntnis und valide Sicherheit. Die apokalyptische Scheidung zwischen Gut und Böse, Gott und dem Teufel, verschiebt sich zugunsten einer insgesamt skeptischen Weltsicht, wie sie etwa in den Essays eines Michel Montaigne oder auch in den Werken William Shakespeares aufscheint. In ihrer Zusammenfassung weitet S. den Blick auf die Frage, ob und in welchem Maße die skeptische Weltsicht des frühen 17. Jh.s den Weg zu moderner religiöser Toleranz – hier verstanden als das Aushalten religiöser Pluralität – geebnet hat. Geoffry Elton und Richard Tuck haben diese These stark nivelliert und auch S. möchte ihr Summarium so nicht verstanden wissen: »The purpose is to demonstrate that there were significant voices in the sixteenth century that saw the dangers involved in certainty. Such voices called for toleration because of the limitations for human knowledge.« (X)
S. betont zugleich in einem knappen Ausblick, dass die Fragen der Konfessionalisierung, der Entstehung konfessioneller Orthodoxie(en) und die protestantische Wiederentdeckung des Aristotelismus in einer Form »zweiter Scholastik« in ihrer Darstellung keine Rolle mehr spielen konnten. Sie ist sich durchaus bewusst, dass die Frage nach persönlicher Heilsgewissheit von den Reformatoren der ersten Generation weder erschöpfend behandelt und beantwortet wurde noch als exklusiv entscheidender Impetus die weitere Debatte bestimmte. Eine derartige Verkürzung der historischen Komplexität liegt nicht in ihrem Interesse: »As Castillio and Montaigne warned us, such claims to finality can be deceptive and dangerous.« (XI)
Es hätte dieser geradezu humanistisch anmutenden Selbstnivellierung gar nicht bedurft: Das Buch ist als Versuch zu lesen, wieder zu einer angesichts der Fülle an detaillierten Forschungen letztlich für immer geschwundenen Zusammengehörigkeit und Ganzheit der reformatorischen Ereignisse zurückzufinden. Ob das gelungen ist, mögen andere entscheiden. Zunächst ist dieser Versuch hochzuschätzen und in der gegenwärtigen De­batte um die Einheit der Reformation, die seit den frühen 1990er Jahren intensiv geführt worden ist, durchaus angemessen. Der Hinweis auf eine Fülle an anders gewichteten und mithin andere Ergebnisse evozierenden Forschungsbeiträgen wird dem Bemühen von S. nicht gerecht. Die Frage nach Sicherheit – oder mit Luther: Heilsgewissheit – ist von zentraler Bedeutung für die Christen im Umschwung der Zeiten zwischen Mittelalter und Moderne. Die faszinierende Verschiedenartigkeit möglicher Antworten auf diese Frage wird von S. angedeutet und nicht über den einen Leisten einer einheitlichen Reformationsdeutung geschlagen. Dafür verdient die Analyse Hochachtung.
Freilich: Die Forschung hat sich, gerade auch in dem Bemühen, die vielfältigen Ergebnisse interdisziplinärer Herangehensweisen zusammenzuführen, in den letzten zwei Dezennien so rasch gewandelt, dass es fast unmöglich erscheint, hier überhaupt noch für eine systematische Durchdringung sorgen zu können. Die Frage nach der Heilsgewissheit trägt die Potenz in sich, zu dieser Suche nach Gemeinsamkeit beizutragen. Dazu wäre aber die Berücksichtigung zahlreicher kulturwissenschaftlicher Fragestellungen und der vom amerikanischen Pragmatismus angeregten englischsprachigen Historiographie wichtig gewesen. S. beschränkt sich in ihrer Arbeit weitestgehend auf den Stand der Forschung in den 1970er und 1980er Jahren und nimmt die historischen Quellen zumeist in englischer Übersetzung zur Kenntnis. Das kommt der Lesbarkeit und Rezeption des Buches in Kontexten außerhalb Deutschlands sicher entgegen, vermag aber der zu erwartenden Kritik anderer historiographischer Entwürfe nicht zu begegnen. Insofern kommt S.s Entwurf einer Zusammenschau möglicherweise entweder zu spät – oder aber auch zu früh: Ihre Stimme passt in die inzwischen zu älteren Entwürfen zählenden Gesamtdarstellungen und könnte zugleich auch der jetzt heranwachsenden, freilich zahlenmäßig eher kleinen Gruppe von reformationsgeschichtlich interessierten Forschenden als Kompass dienen. Dazu muss die Arbeit allerdings noch stärker auf die philologisch korrekte Interpretation der Quellen und die inzwischen fortentwickelte wissenschaftliche Methodendiskussion eingehen. Dennoch: Die Lektüre des Werkes sei allen Interessierten auf beiden Seiten des Atlantiks sehr empfohlen. Vielleicht kann sie den abnehmenden Dialog der transatlantischen Reformationshistoriographie wiederum beleben helfen.