Recherche – Detailansicht
Ausgabe: | Dezember/2014 |
Spalte: | 1464–1466 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Reformationszeit |
Autor/Hrsg.: | Krentz, Natalie |
Titel/Untertitel: | Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg (1500–1533). |
Verlag: | Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XII, 433 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 74. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-152679-4. |
Rezensent: | Martin Treu |
Diese Arbeit von Natalie Krentz, eine Erlanger Dissertation von 2013, ist klar gegliedert. Eine Einleitung beschreibt das Thema und die Forschungslage, erklärt die verwendeten zentralen Begriffe, listet die verwendeten Quellen auf und stellt die Periodisierung des Untersuchungszeitraums aus der Sicht von K. dar. Es folgen vier Hauptkapitel, die chronologisch geordnet sind, aber jeweils auch einen besonderen Themenschwerpunkt behandeln. Ein »Epilog« genannter Schluss befasst sich mit der Archivlage der überlieferten Quellen. Danach folgen ein Fazit, Quellen- und Literaturverzeichnis, sowie ein nach Sachen, Personen und Orten gegliedertes Register.
Auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig ist der von K. zentral verwendete Begriff der »Ceremonien«, »welche[r] säkulare und ausdrücklich auch sakrale formal normierte Handlungssequenzen zunächst unabhängig von ihren sozialen oder sakralen Sinnzuschreibungen bezeichnet« (12). Allerdings stammt der Begriff anders als »Ritual« aus den Quellen selbst.
Die Überlieferungslage in Wittenberg ist in der Forschung mehrfach beklagt worden. Es ist das besondere Verdienst von K., kleine und kleinste Quellenspuren etwa aus dem Wittenberger Ratsarchiv aufgespürt und scharfsinnig ausgewertet zu haben. Gerade das erste Kapitel profitiert davon immens.
Der erste Hauptteil, der sich unter dem Titel »Geistliche Herrschaft, liturgische Praxis und städtische Konflikte« mit der Zeit von 1500 bis 1520 befasst, wendet sich dem Verhältnis der Stadt zu ihrem Ordinarius, dem Bischof von Brandenburg, zu. Zunehmend, so kann K. zeigen, verlieren die Instrumente geistlicher Machtausübung, vornehmlich das Interdikt, in Wittenberg an Wirkung. Geistliche Herrschaft unterliegt einem Prozess der Aushandlung, wobei sich die Stadt als Partner auf Augenhöhe versteht, was der Kurfürst als Landesherr in der Regel bestätigt. Die detailreiche Darstellung dieser bis dato weitgehend unbekannten Zeit zeigt, wie lohnend intensive Archivarbeit ist.
Gestärkt wird die städtische Position auch durch die Stiftertätigkeit des Kurfürsten Friedrich III. in der neu erbauten Schlosskirche wie auch der Reliquiensammlung, die einer Neugründung gleichkam. Belege für eine öffentliche Reliquienzeigung im 14. und 15. Jh. fehlen nämlich (71). Die Exemtion des Allerheiligenstifts direkt unter den Papst schwächte die Rolle des Bischofs weiterhin. Ein drittes Konfliktfeld eröffnete sich mit der Neugründung der Universität als »Ort der Wahrheit« (103). Die Auseinandersetzungen fanden zwischen Bürgern und Studenten, zwischen Universität und der Geistlichkeit und schließlich auch innerhalb der Hochschule statt. Exkursartig ist zudem eine spezielle Untersuchung zu Ablauf und Deutung der Verbrennung der Bannandrohungsbulle beigefügt.
Der zweite Hauptteil unter dem Titel »Wittenberger Unruhen? Neue Deutungsmuster und städtische Konflikte« unterzieht das bisherige Verständnis der sogenannten Wittenberger Bewegung von 1521–1522 einer fundamentalen Kritik. Dies kommt nicht unerwartet, erinnert man sich an den Artikel von K. »Auf den Spuren der Erinnerung. Wie die Wittenberger Bewegung zu einem Ereignis wurde« (Zeitschrift für historische Forschung 257,4 [2009], 563–595). Man wird also gut daran tun, in Zukunft nur in einem sehr eingeschränkten Sinne von einem Bildersturm in Wittenberg zu sprechen. Überzeugend sind auch die sorgfältige Analyse der einzelnen Ereignisse sowie etwa die ausgewogene Beurteilung der städtischen Ordnung vom Januar 1522 als Liturgiereform (186 ff.). Schließlich ist die Wertung von Luthers Invokavitpredigten in der gedruckten Form als einer Sekundärquelle nur zu unterstreichen.
Der dritte Hauptteil, »Die städtische Reformation (1523–1524) – Liturgiereform als doppelter Distinktionsprozess« überschrieben, befasst sich, wie der Titel sagt, mit der Abgrenzung zu den Radikalen vor allem in der Stadtkirche auf der einen Seite und der zu den Altgläubigen im Allerheiligenstift auf der anderen. Besonders eindrücklich erscheint die Darstellung der Einsetzung Bugenhagens als Stadtpfarrer. Von einer Wahl sollte künftig nicht mehr gesprochen werden. Das war Luthers nachträgliche, aber erfolgreiche Deutung des Vorgangs (306). Der Versuch der Wittenberger, gegen das Stift mit dem Mittel des Kirchenbannes vorzugehen, belegt schließlich eine Umkehrung der Machtverhältnisse innerhalb kürzester Zeit.
Der abschließende vierte Hauptteil unter der Überschrift »Landesherrliche Reformation und Einführung eines neuen Deutungskonzeptes« behandelt die Regierungszeit Kurfürst Johanns von 1525 bis 1533. Der Regierungswechsel und der Bauernkrieg werden von K. durchaus als Zäsur verstanden, zumal die Aufstände den Ruf nach einheitlichen »Ceremonien« im ganzen Land lauter werden ließen. Am Beispiel der Deutschen Messe Luthers wird verdeutlicht, welche Rolle der Fürst bei ihrer landesweiten Durchsetzung spielte (340–343). Besonders gelungen ist die detaillierte Untersuchung des Begräbnisses Friedrichs des Weisen, die überzeugend darlegt, welchen Umdeutungen Person und Wirken dieses Fürsten unterlag, wobei der Trauerzug, die Predigten, der Ablauf des Begräbnisses selbst und die Grabgestaltung analysiert werden. Schließlich betrachtet K. die Auflösung des Allerheiligenstifts und das Ende der Wittenberger Reliquiensammlung als Abschluss des Wittenberger Reformationsprozesses. Auch hier kann sie eine neue Quelle aus Wittenberg heranziehen, aus der die Beteiligung der Stadt an der Verwertung der Reliquiare schon 1526 hervorgeht (380).
Unter dem Titel »Epilog« wird noch einmal knapp dargelegt, welchen Einfluss das kursächsische Archivsystem auf die Forschung, speziell die Konstruktion der Wittenberger Bewegung als eines in sich geschlossenen Vorgangs hatte (385–388).
Durch das Auffinden von neuen und die akribische Auswertung bereits bekannter Quellen hat K. die Forschung erheblich vorangetrieben. Das gilt nicht nur für Wittenberg selbst, wo für die Reformationsgeschichte eine erste, umfassende und wohl lange Zeit gültige Darstellung vorgelegt wurde. Auch darüber hinaus verdienen Erwägungen etwa zum Charakter der städtischen Reformation in Wittenberg eine intensive Diskussion. Die Fülle der gegebenen Anstöße können im Rahmen einer Rezension nicht vollständig dargelegt werden.