Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1461–1464

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Gregory, Brad S.

Titel/Untertitel:

The Unintended Reformation. How a Religious Revolution Secularized Society.

Verlag:

Cambridge u. a.: The Belknap Press of Harvard University Press 2012. XI, 574 S. Geb. £ 25,00. ISBN 978-0-674-04563-7.

Rezensent:

Markus Wriedt

Der von Seite 391 bis 536 reichende Anmerkungsapparat des um­fangreichen Werkes dokumentiert die große Lektüreanstrengung, die Brad S. Gregory unternahm, um seine Gesamtsicht der Reformation und ihrer Folgen zu belegen. Gleichwohl: Ein Literaturverzeichnis hätte die latente Einseitigkeit der Forschungswahrnehmung – die im Übrigen im krassen Gegensatz zu den in den »Acknowledgments« (537–539) versammelten historiographischen Autoritäten und ihrer zumindest teilweise anderen Sicht der Dinge steht – sehr viel schneller vor Augen geführt. Während der Name Troeltsch, Ernst ganz im Index fehlt, wird auf Weber, Ernst immerhin knapp 15 Male verwiesen, dies vor allem aber darum, weil er in gleichsam apostatischer Größe den Verfall der postulierten Einheit und Größe des durch die Reformation unwiederbringlich verloren gegangenen mittelalterlichen Erbes dokumentiert und auch noch theoretisch für gut heißt. Auch die seit knapp einem halben Jahrhundert intensiv geführte Debatte um Modernisierung und Säkularisation nimmt G. nur in ausgewählten Vertretern, einseitig und äußerst knapp zur Kenntnis: Namen des amerikanischen Pragmatismus von James bis Dewey oder auch Casanova sucht man vergeblich. Habermas wird immerhin einmal zitiert, Taylor ein wenig öfter, freilich auch eher marginal. Mit anderen Worten: Die theoretische Debatte wird weitestgehend ausgeblendet und die umfangreichen Werke, die dazu in den letzten Jahrzehnten erschienen sind, werden nur als Steinbruch illustrierender Argumente missbraucht.
Doch beginnen wir mit dem Anfang. Noch mit einem Fragezeichen versehen, postuliert das Einleitungskapitel eine Sicht des Mittelalters, die insbesondere von Einheit, Sicherheit der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gesellschaften und ihrer Ordnungen geprägt ist, und vor allem einer als Band der Gesellschaft dienenden kirchlich verwalteten Religiosität, deren innere Struktur durchaus vielschichtig, dennoch aber auf die umfassende Einheit – i. e. Katholizität – der mittelalterlichen Welt verweist. Diese idealisierende Vision, die zumindest in der ernstzunehmenden Reformationshistoriographie kaum mehr jemand vertritt, erklärt sich bei G. vor allem aufgrund der leidvoll erfahrenen Realität einer religions-, meinungs-, autoritätspluralen, orientierungslosen we­stlichen Industriegesellschaft und ihrer Kultur. Insofern bedarf es keiner theoretischen Erörterung des Säkularisationsparadigmas. Vielmehr kulminieren in diesem Begriff alle jene Effekte, die – von der Reformation nicht-intendiert ins Werk gesetzt – jene verlorene Einheit seit dem frühen 16. Jh. unterminierten und zerstörten.
Die folgenden sechs Kapitel erläutern diese grundsätzliche These mit Überschriften, die in bemerkenswerter Nähe zu den säkularisationskritischen Äußerungen des römischen Papsttums stehen. Zunehmende Gottlosigkeit, die fortschreitende Nivellierung und Relativierung lebensorientierender Lehre, die staatliche Kontrolle der Kirche, die Subjektivierung der persönlichen Urteilsfindung und damit der Moral, die Selbstbemächtigung des Menschen für die lebenswichtigen Güter und schließlich die völlige Verweltlichung rationalen Wissens und menschlicher Erkenntnisfähigkeit. Kapitalismus, Konsumorientierung, Egoismus, Gewaltbereitschaft und ein fortschreitender Verfall der Sitten – allein die Klimaveränderung ist als Lemma nicht im Index erfasst; das Buch erweist sich als fataler Rückbezug sämtlicher Fehlentwicklungen der vergangenen fünf Jahrhunderte auf das Geschehen der Reformation. Als würde G. angesichts dieser Verfallsgeschichte selbst ein wenig un­wohl, überschreibt er das zusammenfassende Schlusskapitel mit dem Schlagwort: Against Nostalgia. Mit starken Worten betont G. noch einmal den streng analytischen, mithin jeglicher wissenschaftstheoretischer Kritik enthobenen Ansatz: »my intent in treat­ing the subjects of the respective chapters discretely was strictly analytical« (365). Mithin – die historische Rekonstruktion dient der Erklärung der fatalerweise leidensverursachenden Gegenwart. »Western modernity was forged in the context of the unintended persistence of Christian pluralism and the failures of confessional rulers to achieve their goals.« (373) Während das Ziel im Erhalt oder der modernitätstauglichen Wiederaufrichtung einheitlicher, Sicherheit gebender autoritativer Strukturen bestand, erwies sich die durch die Reformation aus den Fesseln mittelalterlicher Ordnungsregeln befreite Pluralität als »foundational principle« (369) der so die Moderne charakterisierenden neuen Probleme.
Damit ist klar: Die Ursache allen Übels, die Reformation selbst wird nicht einmal ansatzweise in ihrem Reform-Bemühen ernst genommen – allerhöchstens darin, dass ihre säkularisierenden Folgen als nicht-intendiert charakterisiert werden – und in der Darstellung mischt sich persönliche Gesellschafts- und Kulturkritik mit religiöser Orientierungssuche, historisch kaum reflektierter Ereignissammlung und deren methodisch nicht weiter kritisch erschlossene Instrumentalisierung zugunsten einer These, die schon vom Ansatz her scheitern muss. Was Studierende der Ge­schichte – und anderer historisch arbeitender Wissenschaften – schon im ersten Semester lernen, die sorgfältige methodisch-heuristische Kritik am gewählten Interpretationsansatz, wird hier grob fahrlässig vernachlässigt.
Darin, vor allem aber in der vermeintlichen Wissenschaftlichkeit des Werkes, liegt für den Leser das größte Ärgernis. Es hat in den vergangenen Jahren, vor allem im englischsprachigen Ausland Westeuropas einige Diskussionsrunden um das Buch von G. gegeben. Deren Ergebnisse sind bisher nicht bis nach Deutschland ge­drungen. Man wird allerdings auch fragen müssen, wo die gemeinsame Ebene einer Diskussion um die vorgetragenen Thesen denn liegen könnte. Die nonchalante Verweigerung historischer Kritik und theoretischer Verantwortung, wonach das Buch ungeplant (immerhin nicht unintendiert) im Zuge eines Entwurfs einer narrativen Geschichte der Christenheit in der Reformation entstandt, weil sich für G. die kontextorientierte Ansicht des frühneuzeitlichen Christentums (understanding of early modern Christians in context – welcher Reformationshistoriker würde sich dem verweigern?) und die moderne Religionstheorie (modern reductionist theories of religion – wer ist hier eigentlich gemeint?) als faktisch zusammengehörige Aspekte einer gemeinsamen, komplexen Ge­schichte erwiesen. Der weitere Aufbau einer wissenschaftstheore-tischen und der historischen Wirklichkeit unangemessenen »Geis­terstadt« sei hier übersprungen. Exemplarisch wird aber sichtbar, wie durch die geschickte Verbindung von reduzierten (sic!) Thesen und einer in bestimmten Kreisen verallgemeinerungsfähigen ge­genwartsaktuellen Kulturkritik eine höchst fatale Melange wissenschaftsamalgamer religiöser Positionierung entsteht.
Sie im Einzelnen durchzuführen, wäre eine lehrreiche Angelegenheit für ein reformationsgeschichtliches Seminar. Freilich wird man keinem Studierenden unter den Bedingungen gegenwärtiger Ausbildungsrealität zumuten können, Seite für Seite aus zahlreichen Literaturangaben und Quellenverweisen deren missbräuchliche Verwendung nachzuweisen. Aber gerade darum ist die Veröffentlichung des Buches so fatal: Kaum jemand wird sich die Mühe machen, es streitbar zu widerlegen. Bisher noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegend, können zumindest die vorzugsweise muttersprachlich orientierten Studierenden der deutschen Reformationsgeschichte das Werk übergehen. Seine Wirkung im englischsprachigen Kontext ist freilich noch nicht abzusehen. Dazu bedarf es nicht minder eloquent und gegenwartsaktuell auftretender historischer Rekonstruktionen der Reformation und ihrer Ge­schichte, die freilich nicht theoretische Überzeugungen und Ideologismen vergangener Jahrhunderte repristinieren.
Dass die Reformation säkularisierende Folgen hatte – und diese durchaus von ihren Hauptvertretern nicht in jedem Falle intendiert waren – ist unbestritten. Es kommt freilich ganz auf die Konnotation des Säkularisierungsbegriffes und der ihm inhärierenden modernitätstheoretischen Debatte an, wie man diese Folgen be­wertet. Die in Deutschland durch Hans Joas stimulierte Diskussion um den Begriff der »Sakralisierung« weist in die richtige Richtung, nämlich die Wahrnehmung der Säkularisation als eines – gleichsam unvermeidbaren – Phänomens der Neuzeit und Moderne, deren Potenzen erkannt und für die Gestaltung der Zukunft genutzt werden kann. Im Unterschied zu Joas wäre hier, den Thesen Fritz Osterwalders folgend, eine Verschiebung der Sphären des Sakralen zu bedenken, welche die bipolare Agonalität der Kategorien von »Verlust« und »Wiedergewinnung« zu überwinden helfen könnte.
Der Versuch einer Zusammenfassung der vielfältigen Ergebnisse der Beschäftigung mit den Geschehnissen um die Reformation der vergangenen 50 Jahre – wobei diese selbst als präzis zu beschreibendes Ereignis ja umstritten ist – mag als aller Ehren wert betrachtet werden. Er ist freilich insofern als gescheitert anzusehen, weil ein unkritisch postuliertes Referenzsystem auf die historiographische Rekonstruktion angewandt wird, welches sich nicht von einer ideologischen Behauptung unterscheidet. Die stupende Gelehrsamkeit G.s vermag diese grundlegende Schwäche des Werkes nicht zu beheben. Vielmehr dokumentiert das Buch in anachronistischer Weise den Rückfall zumindest eines Vertreters der amerikanischen Reformationsgeschichtsschreibung in die alten Muster ultramontaner Vorkriegs-Konfessionalität, der offensichtlich auch die Lektüre zahlreicher wegweisender Einzeluntersuchungen nicht abhelfen konnte.