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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1397–1399

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schüßler, Michael

Titel/Untertitel:

Mit Gott neu beginnen. Die Zeitdimension von Theologie und Kirche in ereignisbasierter Gesellschaft.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2013. 360 S. m. 2 Abb. = Praktische Theologie heute, 134. Kart. 49,90. ISBN 978-3-17-023410-9.

Rezensent:

Jonathan C. Kühn

Michael Schüßler hat ein überaus umfassendes Werk zu den potentiellen theologischen Implikationen der zeitgenössischen Zeitforschung vorgelegt. Dabei gibt der Privatdozent und Assistent für Praktische Theologie an der römisch-katholischen Theologischen Fakultät der Universität Tübingen zunächst einen informativen Überblick zur Forschungslandschaft und zu den bisherigen Zeitdispositiva, um im Laufe des Buches seine Thesen über deren Impulse und Auswirkungen auf die christliche Theologie, speziell die praktisch-orientierte Disziplin, zu skizzieren. Die ökumenische Weite des Wissenschaftlers sticht hierbei merklich ins Auge, insofern auch eine Vielzahl anderskonfessioneller theologischer Forscher rezipiert wird.
Mit gewissen Längen erläutert S. die Raum- und Zeitdimension menschlicher Existenz und damit die Lebenswelt zeitgenössischer Adressaten von Theologie und kirchlichem Leben. Er hält fest: Wir Heutigen denken in offenen Räumen und leben in flüchtigen Zeiten (15). Dennoch werde der Frage nach der Zeit in der Theologie bislang keine adäquate Bedeutung geschenkt, was ihrer Relevanz keineswegs gerecht werde. Stattdessen wirke der zerbrochene alteuropäisch-platonische Grundkonsens, dass im Gegensatz zur veränderlichen Zeit Gott jeglicher Veränderung entzogen sei, in seinen Bruchstücken unfruchtbar bis in die Gegenwart (37).
Dem aus dem Neuplatonismus stammenden und ohne biblische Fundierung daherkommenden Konzept von der Zeitlosigkeit Gottes sei nun der vollständige Abschied zu geben (42). In Rekurs auf die praktische Wende im zeittheoretischen Diskurs fordert S., die befreiende Zeitlichkeit des Evangeliums von Alltagspraktiken und Ereignisgeschichte her zu entdecken: »Das, was der ewige Gott […] für uns sein wird […], das muss in jedem Augenblick […] neu und möglicherweise anders entdeckt werden.« (49) Da Menschen Zeit-Praktiker seien (im Sinne von doing time), sei Zeit kein vorreflexives Apriori, sondern entstehe für den Menschen jeweils in seinen Praktiken. Mit jedem Ereignis ändere sich die ganze Welt, weshalb auch der ewige Fels, auf den die christliche Kirche gebaut schien, sich unaufhaltsam zu verflüssigen begonnen habe, passend zur biblischen Botschaft, die keinen Zeitkern, sondern einen Inhaltskern habe: das Christusereignis in Reich-Gottes-Praxis (58).
Mit Hörning u. a. konstatiert S., dass Zeitprobleme in der Theologie auf sachliche und soziale Überforderungen fehlbezogen werden, statt die Zeit selbst als ursächlich zu erkennen (61). Er versucht daher, »die Situation von Kirche und Theologie in der Gegenwart als Genealogie ihrer temporalen Kränkungen zu verstehen« (61); beide litten noch heute am Verlust ihrer Definitionsmacht über die Zeit als »unterhinterfragtes Herrschafts- und Sanktionsmittel« (64) durch die Umstellung des Zeit-Dispositivs. Nach diesem habe das theologische Konzept Geschichte eine Kontinuität der Zeit weiter verbürgt, mittels dessen die Ewigkeit Gottes gerettet werden konnte. Im Angesicht von Ereignis, Situativität und Beschleunigung, stehe dieses Dispositiv der dynamischen Dauer nun aber wiederum seinerseits in Frage (84).
Die besondere Herausforderung für Kirche und Theologie sieht S. in diesem Zusammenhang im rechten Umgang mit der paradoxalen Dynamik, mit den richtigen Antworten auf die ereignisbasierte Verzeitlichung von Leben und Welt in jener Gegenwart des Ereignisdispositivs, deren kategorischer Imperativ auf die Formel »Erlebe dein Leben!« zu bringen sei: »Wenn das Jenseits an Plausibilität einbüßt, wird das eigene Leben zur einzigen und letzten verbleibenden Gelegenheit.« (97) Diese auf Gerhard Schulze zurückgreifende Beobachtung besticht in ihrer Klarheit, lässt zugleich aber offen, was hieran – jenseits salonfähiger Zeitdispositiva im Wissenschaftsdiskurs – existenziell anders bzw. neu ein soll: Bereits bei Jesaja findet sich schließlich jenes berühmte appellative Diktum vom präsentischen »Essen und Trinken, denn morgen sind wir tot!«.
Gleichermaßen fraglich erscheint die allzu allgemeine und etwas simplifizierende Behauptung der zeitgenössischen permanenten Selbstneuerfindung. In jeder Gegenwart könne sich, so S., neu entscheiden, wie die eigene Vergangenheit aussah und was bzw. wie die eigene Zukunft sein werde: »Personale Identität wird dadurch verzeitlicht, indem sie situativ und flexibel gestaltet werden kann – und muss.« (110) Erfinden sich, so lässt sich einwenden, aber Menschen tatsächlich minütlich neu? Ist, zugespitzt, der Bä-cker von gestern tatsächlich (wenigstens potentiell) die Managerin von morgen? Plausibler erscheint der Hinweis auf die Vernetzung von Projekten im individuellen Lebensgestaltungsprozess, innerhalb dessen von Endlichkeit zu Endlichkeit gelebt werde, in einer Aneinanderreihung von lauter kleinen Eschatologien (114). Dabei entstehe mit jedem Ereignis eine neue Welt (127).
Dem korrespondiert S.s These, das Evangelium vom Gott Jesu könne heute weniger im Horizont der Geschichte und müsse vielmehr unter den Bedingungen des gegenwärtigen Ereignisdenkens formuliert werden (149). Die Aufgabe von Theologie und Kirche als Nachhaltigkeitsagentur des Evangeliums (302) bestehe darin, vom Konzept der Geschichte samt Eschatologie auf jenes der Schöpfung umzustellen: »Gott wird dort zum Ereignis, wo man sich in die Zeit fallen lässt und dieses temporale Wagnis als Neubeginn erfährt.« (251) Denn: »Gott ist für uns nicht der immer Gleiche, sondern der, der immer neu mit uns beginnt.« (320) Deshalb resümiert S.: »Die Zeitstruktur christlicher Existenz erschöpft sich nicht in einer befristeten Zeit des Endes […] sondern sie entspringt der Herausforderung, immer wieder neu zu beginnen.« (337)
Was leider inmitten aller lohnenden Anstöße irritiert, zuweilen regelrecht frustriert, ist die Vielzahl orthographischer wie grammatikalischer Fehler, wodurch das Werk formal hinter den Erwartungen an eine Kohlhammer-Publikation weit zurückbleibt. Aus wissenschaftlicher Perspektive noch ärgerlicher ist allerdings die unsaubere Zitation durch S.: Ungezählte Male findet der Leser als Quelle für wörtlich Zitiertes (!) den Hinweis »xy zitiert nach …« (!). Mag solches bei schwieriger Quellenlage, zumal bei kirchengeschichtlichen Arbeiten, welche auf handgeschriebene Originalbriefe in persönlichen Nachlässen, die als Familienschatz gehütet und nur in Ausnahmefällen einem Forscher zugänglich gemacht werden, zuweilen unvermeidbar und damit legitim sein, so ist bei der vorgelegten Monographie nichts Vergleichbares an Gründen erkennbar oder benannt, was diese laxe Form der Zitation rechtfertigen würde. So bleibt der Leser unbefriedigt mit der Frage zurück, warum nicht die Originalquelle des Zitates benannt ist, sondern nur über Umwege nachvollziehbar sein soll, wo genau sich die zitierte Aussage primär findet. An manchen Stellen wirkt das Verhandelte zudem unnötig abstrakt-abgehoben.
Die große Verehrung S.s für seinen Doktorvater und Mitherausgeber der Reihe »Praktische Theologie heute«, in welcher sein Buch erschienen ist, Ottmar Fuchs, wird überdeutlich; gleichwohl reflektiert S. erfrischend selbstkritisch seine Neigung zur Fuchs-Rezeption, die seine Thesen nachhaltig prägt.
Insgesamt erscheint mir die Publikation für an Zeitforschung Interessierte als durchaus lohnend, zugleich in Gehalt und Intention ausgesprochen speziell, was einer breiten Rezeption im Wege stehen dürfte.