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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1370–1371

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Neymeyr, Barbara, u. Andreas Urs Sommer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Nietzsche als Philosoph der Moderne. Hrsg. im Auftrag d. Heidelberger Akademie d. Wissenschaften, Akademie d. Wissenschaften d. Landes Baden-Württemberg.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2012. 327 S. = Akademiekonferenzen, 9. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-8253-5812-9.

Rezensent:

Claus-Dieter Osthövener

Der hier anzuzeigende Sammelband ist hervorgegangen aus einer im Wintersemester 2009/10 von der Forschungsstelle »Nietzsche-Kommentar« verantworteten Ringvorlesung an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, an der auch die meisten Beiträgerinnen und Beiträger lehren oder lehrten; einige Beiträger kommen aus Heidelberg, das mit dem 100-jährigen Bestehen der dortigen Akademie den äußeren Anlass zu dieser Reihe bot. Manche der Beiträge sind bereits an anderer Stelle veröffentlicht.
Das Themenspektrum ist, wie der Klappentext zutreffend verheißt, »breitgefächert«. Doch ergibt sich daraus auch eine Fokussierung auf Nietzsche als einen Philosophen der Moderne? Ja und nein. Beginnen wir mit einer markanten Behauptung Volker Gerhardts: »Die Romantik ist die große Wasserscheide des europäischen Denkens. Sie trennt die Zeit zwischen zweitausendfünfhundert Jahren wissenschaftlicher Aufklärung und der gesuchten Kultur einer säkularen Einheit von Leib und Gefühl. Nietzsche ist der erste, der daraus eine epochengeschichtliche Konsequenz zu ziehen versucht« (33 f.). Volker Gerhardt selbst schließt sich an seine einigermaßen steile These jedoch nur programmatisch an, nicht aber faktisch. Denn sein Bild der Philosophie, das er immer wieder der Kritik Nietzsches gegenüberstellt (die ebenso regelmäßig als un-zureichend qualifiziert wird, insofern sie die Höhenlagen ihres Gegenstandes nicht in den Blick bekomme), dieses Bild ist ein aufklärerisches, kein romantisches. Hier drängt sich nun eine Frage auf, die von der Nietzsche-Forschung eher selten erörtert wird, nämlich die Frage nach dem Verhältnis Nietzsches zur Aufklärung. Von »der Aufklärung« zu sprechen ist zweifellos kompliziert, vor allem, da sich in den letzten Jahrzehnten auch in der deutschen Forschung ein sehr viel komplexeres Bild dieses Zeitalters abzuzeichnen beginnt, als es das 19. Jh. (Nietzsche inbegriffen) haben konnte und haben wollte. Aber den manifesten und programmatischen Bezugnahmen Nietzsches auf eine sehr spezifische Tradition der Aufklärung stehen nicht minder manifeste und wirkungsmächtige Absagen an ihre großen Themen gegenüber. Seine Lust an der Aufklärungskritik, seine Verachtung einer vermeintlich harmlosen Humanität, mitsamt den damit einhergehenden pragmatischen Balancierungen und dem pädagogischen Bohren dicker Bretter, dies alles bündelt sich zu einem sehr markanten Unbehagen am Großprojekt der Aufklärung, das wir noch lange nicht hinter uns haben (weder das Projekt noch das Unbehagen). Nietzsches Aufklärungskritik ist im Grunde weniger philosophisch als vielmehr ästhetisch, mitunter journalistisch, jedoch immer pointiert und stets von großer Eindringlichkeit.
Der Aufsatz von Barbara Neymeyr (Nietzsche als Aufklärer) greift leider all diese Fragen und Probleme kaum einmal am Rande auf, sondern verlässt sich darauf, dass Nietzsche schon aus chronologischen Gründen Recht gehabt haben wird, und markiert im Übrigen seinen Einfluss auf Sigmund Freud, dessen Verhältnis zur Aufklärung jedoch nicht minder ambivalent sein dürfte. Ähnliches ist zu sagen zu den Überlegungen von Katharine Grätz (Nietzsches ­Geschichtsden-ken). Die Nähe Nietzsches zur gerade erst überwundenen pragmatischen Geschichtsschreibung des 18. Jh.s (»für Nietzsche hingegen ist Geschichte nur dann von Wert, wenn sie parteiisch im Dienst des Lebens steht«, 186) scheint ihr gar nicht aufzufallen. Auch der deutliche Niveauunterschied zu Johann Gustav Droysens Bemühungen um eine methodisch kontrollierte und zugleich sachbezogene Historik wird nicht einmal ansatzweise deutlich gemacht. Dabei hatte schon Adolf von Harnack frühzeitig notiert, Nietzsches Weltbetrachtung sei ihm »bei aller Ablehnung der Metaphysik doch zu absolut und bei aller Werthschätzung der Geschichte doch zu ungeschichtlich und zu eng« (17.7.1880 an Overbeck). Aus ebendieser Mischung ist dann später die vielbeschworene »Krise des Historismus« erwachsen, die jedoch weitgehend in dem schon von Nietzsche eröffneten akademischen Feuilleton stattfand, während die Historiker weiterhin schlicht ihrer Arbeit nachgingen. Immerhin schließt der Beitrag mit einer bedenkenswerten Einsicht: »Die ideologiekritische Funktion, die sich der His­-torie selbst abgewinnen ließe, bleibt dabei auf der Strecke« (191). Es ist überhaupt bedauerlich, dass die Geschichte der Moderne in diesem Sammelband weitgehend als Siegergeschichte geschrieben wird (wozu Nietzsche gewiss einige sarkastische Anmerkungen parat gehabt haben dürfte). Das naheliegende Thema »Nietzsche als Philosoph der Gegenmoderne« bleibt ausgeblendet.
Eine Reihe von Beiträgen widmen sich den unvermeidlichen »Nietzsche und …«-Themen, wobei vor allem Lore Hühns Abhandlung (die längste im Buche) über Arthur Schopenhauer hervorsticht durch eine Fülle von interessanten Gesichtspunkten, gerade in religiöser und theologischer Hinsicht. Darin unterscheidet sie sich wohltuend von Jochen Schmidt, der im Rahmen einer erneuten, aber nicht neuen Betrachtung der »Umwertung aller Werte« auch auf Nietzsches »penetrante Verwendung des Begriffs ›Erlösung‹« (22) zu sprechen kommt, ein Begriff, für dessen vielfältige und spannungsreiche Valenzen er offenbar nicht den Hauch eines Verständnisses aufzubringen vermag. Eine solche in der Nietzscheforschung nicht eben seltene pausbäckige Säkularisiertheit rechnet sich am Ende wohl noch selbst zur »intellektuell wagemutigen ­Moderne« (27).
Dieter Borchmeyers Untersuchung zu »Nietzsche und Wagner«, ein »Konzentrat verschiedener Studien des Verfassers« (99), der gewiss zu den profiliertesten Kennern dieser Materie zählt, ist präzise und farbenreich. Stark, aber durchaus plausibel, ist seine Schlussthese: »Man geht nicht zu weit, wenn man behauptet, daß die Auseinandersetzung mit Wagner […] das Zentrum von Nietzsches Denken gewesen ist. Wagner war für seine Philosophie das Paradigma aller Paradigmen« (122). Andreas Urs Sommer gibt mit »Nietzsche und Darwin« einen »Einblick in die Werkstatt des Kommentators« (224) und zwar auf eine ebenso gelehrte wie facettenreiche Weise. Dass der Verfasser maßgeblich an der Reihe der Nietzsche-Kommentare beteiligt ist, macht sich wohltuend bemerkbar. In einer solchen detailgenauen Kontextualisierung liegt ganz gewiss eine zukunftsträchtige Aufgabe der Nietzscheforschung. Ähnlich fruchtbar ist nach wie vor die Behandlung Nietzsches als Sprachereignis, zu der sowohl Klaus Mönig (Nietzsches späte Lyrik) als auch Hans-Martin Gauger (Nietzsches Stil) beachtliche Beiträge liefern. Mönig würdigt exemplarisch die Lyrik aus dem Umfeld der »Fröhlichen Wissenschaft«, die durchaus verspielt und mit mediterraner Heiterkeit grundiert daherkommt, und grenzt sie (leider recht knapp) von der späten Einsamkeitslyrik ab, die mit teils »schon ›expressionistisch‹ anmutenden Versen« (219) aufwartet. Gaugers Stilanalyse ist auf weite (allzu weite) Strecken eine Auseinandersetzung mit einem mäßig gelungenen Buch Heinz Schlaffers, zeigt aber doch, wie man sich gerade der Vielfalt der Stile Nietzsches nähern könnte, der »unter den Philosophen der größte Schriftsteller« (274) ist. Weitere Beiträge ziehen Heidegger, Jünger und den Nihilismus zur Profilierung Nietzsches heran.
Dass es sich um Aufsätze unterschiedlichen Gewichts handelt, wurde deutlich und versteht sich auch von selbst. In mancher Hinsicht Rückblick und Zwischenbilanz, in anderer Hinsicht perspektivisch nach vorne blickend, gibt das Buch insgesamt einen anregenden Einblick in den Stand der Forschungen zu Nietzsche.