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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1368–1369

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Marion, Jean-Luc

Titel/Untertitel:

Gott ohne Sein. Aus d. Französischen übers. v. A. Letzkus. Hrsg. u. m. e. Nachwort versehen v. K. Ruhstorfer.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2013. 372 S. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-506-77588-7.

Rezensent:

Christina M. Gschwandtner

Der vermutlich bekannteste Text des bedeutenden französischen Philosophen Jean-Luc Marion, Dieu sans l’être, liegt nun auch, über 30 Jahre nach der ursprünglichen Erscheinung, in deutscher Sprache in einer sehr guten Übersetzung von Alwin Letzkus (mit Nachwort von Karlheinz Ruhstorfer) vor. Obwohl sicher nicht M.s wichtigstes Buch, ist es doch das, das ihn ursprünglich bekannt gemacht hat, nicht nur in Frankreich, sondern auch in den Vereinigten Staaten, wo es viele Jahre sein einziges übersetztes Werk war und da­her die Rezeption seiner Philosophie im englischsprachigen Raum maßgeblich geprägt hat.
In diesem Werk antwortet M. auf die weitverbreitete Überzeugung, dass Gott tot sei und also nicht mehr als philosophisches Thema zur Debatte stehe. Er interpretiert diese Ansage bei Nietzsche als nur den »moralischen Gott« betreffend; daher eröffne diese Ankündigung des Todes Gottes neue Möglichkeiten, weil ein falsches Konzept Gottes damit überwunden sei. Bereits in L’Idole et la Distance (1977) war M. genauer auf Nietzsche eingegangen und hatte ihn gemeinsam mit dem Dichter Hölderlin und dem pa-tris­tischen Theologen Dionysius benutzt, um eine Theorie der »Distanz« zwischen Gott und Mensch zu erarbeiten, die Heideggers »ontologischer Differenz« entspricht, sie aber auch überwindet. Diese Diskussion mit Heidegger wird in Gott ohne Sein viel detaillierter weitergeführt.
M. unterscheidet hier zwischen »Idol« und »Ikone« als gegensätzliche Bilder oder Konzepte für das Göttliche. Während das Idol den Blick völlig ausfülle und auf sich selbst zurückwerfe (also als Spiegel funktioniere), erlaube die Ikone den Blick in und durch sich und antworte ihm mit einem »Gegenblick«. Konzeptuelle Idole seien daher – ähnlich unseren eigenen Konzeptionen Gottes – nicht völlig falsch, sagten aber mehr über mich und meine (immer zu kurz geratenen) Fähigkeiten aus, Gott zu erfassen, als über Gott selbst.
Ikonen, für M. herausragend der Gedanke der Liebe, seien indes offen für Gottes Selbstoffenbarung, sie würden Gott nicht unseren Gedanken und Konzepten unterordnen. Angelehnt an seine früheren Studien besonders über Descartes und Descartes’ spätmittelalterlichen und frühmodernen Kontext, in dem M. be­reits ausführlich adäquate Rede über Gott erläutert und eine Unterwerfung Gottes unter das Seinsdenken verworfen hatte, konzentriert er sich in diesem Buch noch gezielter auf das Sein als Idol: sowohl in einem generellen als auch im spezifisch thomistischen und ganz besonders im Sinne Heideggers. M.s Verwerfung des ­thomistischen Seinsdenkens rief sowohl in Frankreich als auch an anderen Stellen große Entrüstung hervor. Diese Ausgabe von Gott ohne Sein, die auf der neuesten französischen Auflage (2002) basiert, beinhaltet einen späteren Aufsatz (Januar 1995), in dem M. seine Position zu Aquin klarstellt und in gewisser Weise revidiert. (Univokales »Sein« wird immer noch als Idolatrie angesehen, aber Thomas wird jetzt davon ausgenommen und interpretiert, erkannt zu haben, dass Gott als solcher nie definiert werden könne, sondern dass die Güte immer höher stehe als das Sein. Aquin erliege daher nicht der Onto-theologie.) Auch einige der anderen Kapitel sind in philosophischen Kontroversen und Debatten entstanden und sind daher teils bewusst provozierend.
Der Hauptgesprächspartner dieses Buches ist jedoch nicht Thomas von Aquin, sondern Martin Heidegger, dessen »äußerstes«, »gefährlichstes« und »lehrreichstes« Idol (81) im Detail erarbeitet wird. Nach Nietzsches Überwindung der Idolatrie des »moralischen Gottes« und Heideggers Beseitigung des onto-theologischen causa sui, müsse selbst bei Heidegger noch Idolatrie bekämpft werden, nämlich die des Seins, die für Heidegger das gesamte Feld der Philosophie bestimme. Heideggers »Dasein« nimmt eine quasi-göttliche Funktion ein und selbst die »Götter« des Gevierts in Heideggers Spätwerk stehen im Horizont der Seinsfrage. Gott müsse daher »ausgestrichen« oder »überkreuzt« werden. – Im Text ist dies mit einem Kreuz über dem Wort »Gott« markiert, ähnlich Heideggers »Auskreuzung des Seyns«.
Der Auseinandersetzung mit Heidegger in den ersten drei Kapiteln folgt ein Kapitel über die Nichtigkeit und Langeweile, die uns zur Liebe treibe, weil sie das Sein ausschalte und damit die ontologische Differenz außer Kraft setze. Das Buch endet mit drei mehr theologisch orientierten Kapiteln, zwei über Eucharistie und eins eher allgemein über den Glauben. Die letzten zwei Kapitel befinden sich »außerhalb« des Textes (»hors-texte«), eine Anspielung auf Derrida, demzufolge es nichts außerhalb des Textes gibt. Interessanterweise ist das Kapitel über Eucharistie »innerhalb« des Textes, obwohl es die Eucharistie als Ort der Theologie definiert und mehrere eindeutig theologische Ansprüche stellt. Theologie müsse von Christus, dem Wort selbst, ausgehen und an seiner Statt sprechen, daher Bischof und Kirche treu bleiben. Das folgende Kapitel verteidigt die Transsubstantiation gegen eine rein existentielle Interpretation. Das Kapitel über Glauben (das letzte Kapitel des ursprünglichen Buches, hier von dem Aufsatz über Aquin gefolgt) macht noch deutlicher als vorherige Kapitel, dass Liebe für M. im Zentrum des Glaubens und Lebens steht. M. hat seither noch mehrere Vorträge zum Thema der Eucharistie, des Gebets, des Glaubens und der Liebe gehalten.
Im Vorwort zu dieser deutschen Auflage bezieht sich M. auf sein phänomenologisches Werk über Gabe/Gebung (das inzwischen auch in Deutschland viele Diskussionen ausgelöst hat, selbst ohne Übersetzung der relevanten Werke) und besonders auf die »erotische Reduktion«, die in seinem Buch Das Erotische. Ein Phänomen noch viel ausführlicher zur Sprache kommt. Und in der Tat sind diese späteren Themen in Gott ohne Sein bereits angedeutet. Die Gabe bestimme sogar das Sein, nicht das Sein die Gabe (163–69; verlorener Sohn). Die Eucharistie wird als Theologie der Gabe analysiert und auf die Liebe wird mehrmals gedeutet als die einzig rechte Art, über Gott zu sprechen, und als die einzige Methode, um der Langeweile und Sinnlosigkeit des Daseins zu entkommen. Liebe spreche uns an und gebe sich völlig für uns. Weil Liebe sich selbst ganz gebe, nämlich in einer völligen kenotischen Hingabe, sei es die einzige nicht-restriktive Weise, in der Gott sich uns gebenkann, ohne zum Idol zu werden. Wie in der Eucharistie gebe sich Gott in der Liebe selbst und von sich aus, statt von uns anvisiertzu werden.
M.s Argumentation hier und in seinen zahlreichen anderen Werken zu Phänomenologie und Theologie hat die gegenwärtige Religionsphilosophie bereits maßgeblich beeinflusst. Sogar in Deutschland hat es rege Auseinandersetzungen mit seinen Ideen ausgelöst, wie Dissertationen und andere Studienarbeiten über sein Werk (Specker, Bauer, Pirktina) sowie Tagungen und Sammelbände (Wohlmuth, Gabel & Joas, Gerl-Falkovitz) zeigen. Kühn und Alferi haben seiner Philosophie längere Studien gewidmet und sich kritisch mit ihr beschäftigt. Es ist sehr zu hoffen, dass auch M.s andere Bücher bald ins Deutsche übersetzt werden und dadurch weiteren Zugang finden.