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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1363–1365

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Danz, Christian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Schelling und die historische Theologie des 19. Jahrhunderts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. VIII, 263 S. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-152931-3.

Rezensent:

Gunther Wenz

Die Wissenschaften haben im Verlauf des 19. Jh.s einen Funktionswandel hin zu einem postidealistischen Realismus durchlaufen. Die Philosophie, in Sonderheit diejenige des Deutschen Idealismus, wie Hegels spekulatives Vernunftsystem ihn nach eigener Einschätzung vollendet repräsentierte, verlor fortschreitend ihr wissenschaftliches Definitionsmonopol.
Der philosophische An­spruch, eine Enzyklopädie der einzelnen Wissenschaften leisten zu können, wurde mehr und mehr als unwissenschaftlich abgetan. Die Wissenschaft verwissenschaftlichte sich, will heißen: Sie hob sich immer mehr von anderen sozialen Funktionssystemen ab, um sich zugleich selbst immer stärker auszudifferenzieren. War das Humboldtsche Wissenschafts- und Universitätskonzept der Idee nach wesentlich auf Allgemeinbildung bezogen, so trat nun eine wissenschaftliche Spezialisierung ein, die nicht den Universalgelehrten, sondern den Fachmann verlangte. Der Fachmann wird zum Prototyp des Wissenschaftlers, dessen Forschungen ebenso zweckvoll wie wertfrei durchgeführt werden müssen.
Der Prozess der Verwissenschaftlichung und Diversifikation der Wissenschaften erfasste in erster Linie die Naturwissenschaften, die sich von geisteswissenschaftlicher Dominanz emanzipierten, neben den klassischen Fakultäten der Theologie, Jurisprudenz und Medizin sowie der Philosophie etablierten sowie progressiv spezialisierten. Er nahm aber auch in den Geisteswissenschaften Fahrt auf, wie die Empirisierung der Geschichtswissenschaften und dasjenige geisteswissenschaftliche Phänomen belegt, das man üblicherweise und ein wenig pauschal Historismus nennt. Zwar behauptet der Historismus die Freiheit der Geisteswissenschaften von naturwissenschaftlicher Vorherrschaft und stellte, insofern er Geschichte von Natur unterschied, eine Kultursphäre mensch-lichen Handelns, in der Freiheit am Werke sei, einer vom Gesetz der Notwendigkeit durchwalteten Sphäre gegenüber. Dabei relati-vierte er allerdings die in der Kulturgeschichte der Menschheit wirksame Freiheit, indem er sie »historisch« bedingt sein ließ. Jeder ahis­torische Anspruch auf zeitinvariante Geltung wurde so unter-miniert bzw. durch den Aufweis geschichtlicher Genese elegant unterlaufen gemäß der Devise von David Friedrich Strauß: Die Geschichte des Dogma ist seine Kritik.
Der Prozess fortschreitender Historisierung, Verwissenschaftlichung und Spezialisierung machte auch vor der Theologie nicht Halt. Was hat Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) damit zu tun? Hat er zur skizzierten Entwicklung beigetragen, sie möglicherweise sogar initiiert, wenn er der Philosophie den An­spruch, reine Vernunftwissenschaft zu sein, bestritt und sein geschichtliches System, wie er es ausdrücklich nannte, jeder Form von Logismus eines vermeintlich reinen Denkens kontrastierte? Schelling wollte Philosophie dezidiert als empirische Wissenschaft betreiben, ohne deshalb ihren metaphysischen Charakter preiszugeben: Markiert sein metaphysischer Empirismus, welcher der Unvordenklichkeit des Seins gedanklich Rechnung zu tragen versucht, mit dem Ende des Idealismus Fichtescher und Hegelscher Provenienz zugleich dessen Vollendung und einen zukunftsweisenden Neubeginn?
Mit Fragen dieser Art beschäftigten sich die im vorliegenden Sammelband dokumentierten Beiträge eines Forschungssymposions, das vom 30. November bis zum 1. Dezember 2012 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien stattfand, wo der Herausgeber Systematische Theologie lehrt. Ziel der Unternehmung war es, »die bislang nur wenig erforschten Zusammenhänge zwischen der Philosophie Schellings und den Historisierungsschüben in den theologischen, philosophischen und geschichtswissenschaftlichen Diskursen der ersten Hälfte des 19. Jh.s auf eine interdisziplinäre Weise« (V) zu erschließen. Schelling hat nicht erst in der Zeit, die man seine späte nennt, die Alleinherrschaft der Idee und des begreifenden Denkens kritisiert und dem Anderen der Vernunft, dem Individuellen und Kontingenten philosophische Geltung zu verschaffen gesucht. Dieses Programm scheint eine Affinität zu den Historisierungstendenzen der Zeit zu belegen. Reflektiert sich in diesen Tendenzen ein philosophischer Trend bzw. hat ein solcher Trend den Prozess der Historisierung des Bewusstseins und der Ausbildung historischer Fachwissenschaften motiviert? Um für die Beantwortung von Fragen dieser Art die nötige Basis zu finden, werden vom Herausgeber zu Anfang und am Schluss die einschlägigen Schellingbefunde erhoben.
Der Einleitungsbeitrag von Christian Danz handelt allgemein von Schelling und den Historisierungsprozessen im 19. Jh., der Schlussbeitrag bietet unter der Überschrift »Von der Vernunft-religion zur spekulativen Religionsgeschichte« Anmerkungen zu Schellings später Religionsphilosophie im Kontext der Hegel-Schule. Die beiden Studien werden durch zwei weitere Beiträge zum späten Schelling ergänzt: Georg Neugebauer thematisiert unter dem Titel »Spekulativer Geschichtspositivismus« die Ge­schichtsphilosophie des späten Schelling, Malte Dominik Krüger das Verständnis des Philosophen von Gott und Geschichte im Sinne von »Kontingenzbewusstsein als Freiheitserfahrung«. Dem frühen, im gegebenen Fall ganz frühen Schelling ist lediglich ein Text gewidmet: Chris­topher Arnold analysiert die biblisch-hermeneutischen Voraussetzungen von Schellings Mythenverständnis während seiner Tü­binger Zeit als Wegbereiter seiner eigenen Theoriebildung.
Die Kritik des späten Schelling an der Zurücksetzung der Wirklichkeit hinter die Idee bezog sich nach Urteil des Herausgebers »in­direkt auch auf die historischen Theologien« von Baur und Strauß.
»Insbesondere bei Letzterem gewinnt die Idee einen von der Geschichte und ihren Formen unabhängigen Status. Die Einheit von Gott und Mensch an sich wird durch die Kritik der geschichtlichen Formen nicht betroffen, da sie unabhängig von ihrer Darstellung in der neutestamentlichen Geschichte ist. Aber auch in der historischen Theologie Baurs wird das individuelle und historisch Kontingente der Idee untergeordnet. Es ist bloßes Durchgangsmoment auf dem Weg des Geistes zu seiner Selbsterfassung.« (19)
Ob diese These zutrifft, kann man anhand der Beiträge von Jan Rohls, Oliver Wintzek, Christof Landmesser und Johannes Zachhuber studieren. Rohls diskutiert das Verhältnis von historischer Kritik und spekulativer Theologie anhand der von Strauß verneinten Frage, ob man die Konstruktionen spekulativer Christologie mit einem historisch-kritischen Jesusbild vereinen, den Gottmenschen als realexistierendes Geschichtsindividuum denken könne. Wintzek schließt an diesen Fragenkreis an mit der Titelwendung »Die Menschwerdung Gottes ist eine Menschwerdung von Ewigkeit«, um einen monistischen Tiefenstrom der Theologie zu identifizieren, der bei Strauß Oberwasser bekomme. Die Verbindung von Mythos und Geschichte bei Ferdinand Christian Baur wird von Christof Landmesser, Baurs Schellingrezeption von Johannes ­Zachhuber analysiert. Eine verwickelte Spurensuche Georg Essens zur Schelling-Rezeption in der katholischen Theologie des 19. Jh.s schließt sich an. Exemplarisch für alle charakterisierten Problemkonstellationen ist die Frage, ob sich eine Synthese zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus herstellen lasse. Nach Urteil von Ulrich Barth ist dies auch Schleiermacher trotz redlichen Bemühens nicht gelungen; an diesem Sachverhalt habe sich seither nichts Grundsätzliches geändert.
»Spekulatives Denken und Historismus – ein unabgeschlossenes Projekt«: Mit diesem Titel hat Michael Murrmann-Kahl den sachlichen Gehalt der in dem Sammelband vereinten Beiträge auf den Punkt gebracht. Er hat zugleich gute Gründe dafür angeführt, warum er das Projekt nicht nur für unabgeschlossen, sondern für prinzipiell unabschließbar hält. Der Sinn von Geschichte(n) lässt sich nicht ohne Bezugnahme auf empirisch gegebene, historisch-kritisch zu erhebende Daten erfassen; doch entsteht »aus den kritisch erforschten Quellen noch lange keine in sich schlüssige Ge­schichte« (81): »Keine Geschichtsschreibung kommt ohne meta-historische und darin eben normative Elemente aus.« (Ebd.) Mit systemtheoretischen Anklängen formuliert: »Angesichts der Tatsache, dass jedes Beobachten in seinem Operieren nicht zugleich den eigenen blinden Fleck beobachten kann, könnte die wechselseitige und gegenseitige Zweitbeobachtung von Spekulation und Historie sehr wohl einen guten Sinn ergeben.« (82) Schellings metaphysischer Empirismus bzw. metahistorischer Historismus und seine Zuordnung von negativer und positiver Philosophie scheinen in diese Richtung zu weisen: Spekulation und Historie lassen sich nicht trennen, aber auch nicht in eins setzen; sie bilden einen Zu­sammenhang, der weder durch Theorie noch durch Praxis in eine definitiv abgeschlossene Synthese überführt, sondern nur in religiöser Form als sinnvolles Ganzes wahrgenommen werden kann.