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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1335–1338

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Ludwig, Walther

Titel/Untertitel:

Beispiele interkonfessioneller Toleranz im 16.–18. Jahrhundert. Zwei humanistische Stammbücher und die christlichen Konfessionen.

Verlag:

Hildesheim u. a.: Georg Olms Verlag 2010. 283 S. = Noctes Neolatinae. Neo-Latin Texts and Studies, 14. Lw. EUR 48,00. ISBN 978-3-487-14513-6.

Rezensent:

Malte van Spankeren

Der Altphilologe Walther Ludwig hat mit großer Akribie zwei Stammbücher kritisch ediert, welche durch ihre Einträge individuelle Einblicke in die Bildungskarriere ihrer Erstbesitzer bieten und darüber hinaus in die mitunter ungewöhnlich anmutende konfessionelle Zusammensetzung führender westeuropäischer Universitäten der frühen Neuzeit. Aufgrund dessen allerdings von »interkonfessioneller Toleranz« zu sprechen, erscheint m. E. zu hoch gegriffen. Die hohe Akribie zeigt sich nicht nur in den Kommentaren zu den Einträgen, sondern auch im Hinblick auf die Register, die neben Personen und Orten u. a. auch die eingetragenen Sentenzen umfassen.
Das erste der beiden Stammbücher stammt von Paul Hess(us), einem Melanchthonschüler und Medizinprofessor und bündelt gut 90 Einträge aus den Jahren 1564–1568. Während dieses Stammbuch als »Album amicorum« charakterisiert werden kann, wird das zweite vom Vf. als »album auctoritatum« beziehungsweise »album fautorum et patronorum« (235) definiert. Es enthält 160 Einträge aus den Jahren 1699–1711 und stammt von einem lutherischen Theologiestudenten. Inwiefern es allerdings »einen besonderen Beitrag zur Geschichte der Toleranz zwischen den christlichen Konfessionen leistet« (5), wird nicht recht deutlich. Problematisch erscheint auch folgende Aussage: »Das Buch von 1564–68 zeigt unerwartete Kontakte zwischen protestantischen und katholischen Studenten […] das von 1699–1711 dagegen eine starke Abschottung des katholischen Raumes einerseits und andererseits innerhalb des evangelischen Raumes ein Interesse an Toleranz der nichtkatholischen christlichen Konfessionen untereinander und eine Bemühung für ein Verständnis ihrer Gemeinsamkeiten« (6 f.). Während den ersten beiden Aussagen zuzustimmen ist und insbesondere die überkonfessionellen Kontakte der Studenten von historiographischem Interesse sind, kann m. E. aber eine »Bemühung um das Verständnis ihrer Gemeinsamkeiten« aus den Einträgen nur sehr bedingt herausgelesen werden.
Zu den einzelnen Stammbüchern und ihren Erstbesitzern: Paul Heß aus Breslau, dessen Vater Johannes Heß mit Melanchthon befreundet war und seit 1523 als lutherischer Prediger in Breslau amtierte, wurde 1536 ebendort geboren. Er studierte von 1553 bis 1556 in Wittenberg, wohnte bei Melanchthon und ging von dort zum Medizinstudium nach Italien. Er kehrte 1558 nach Deutschland zurück, wirkte von 1566–1571 als Professor der Medizin in Wittenberg, später als Arzt in seiner Geburtsstadt und starb am 11.03.1603. Sein Besuch in Ingolstadt wurde nach seinem Ableben mit dem Besuch von dort lebendenden Verwandten erklärt, den Aufenthalt im ebenfalls katholischen Löwen verschwieg man ganz. Der Vf. erläutert diesbezüglich: »Es paßte zu wenig zu dem Bild des Protestanten, der betrauert wurde und gefeiert werden sollte.« (25)
Hess’ Herkunft aus Breslau, durch die er »an eine Koexistenz der evangelischen Bürgerschaft mit dem Bereich der katholischen Geistlichkeit gewöhnt war« (32), vor allem aber seine Studienaufenthalte in Italien dürften ihm den Gang nach Löwen – der erste Eintrag stammt vom 09.02.1564 aus den Händen eines nachmaligen Salzburger Fürstbischofs – erleichtert haben, der nichtsdestotrotz für einen Protestanten auch deshalb bemerkenswert war, weil von den dort Immatrikulierten folgender Eid gefordert wurde: »Ebenso schwöre ich, daß ich von Herzen alle Lehren des Martin Luther und aller anderen Ketzer verabscheue, insofern sie den Lehren der alten und katholischen und römischen Kirche entgegenstehen, und daß ich der alten zuvor genannten Kirche folgen und ihren Glauben bewahren will im Gehorsam zu dem einzigen höchsten Hirten, dem römischen Pontifex.« (30)
Interessant sind aus dieser Zeit einige Spottgedichte, die von katholischen Autoren stammen und gegen Rom und zumal dessen Geldgier gerichtet sind. Eines dieser Spottgedichte endet mit den Zeilen: »Falls ihr fragt: ›Warum konnte Leo in seiner letzten Stunde das heilige Sakrament nicht empfangen?‹ Er hatte es verkauft!« (38) Auch weitere Einträge regen durchaus zum Schmunzeln an: »Wenig gered unnd wolbedacht/ Hat mir nie schaden bracht.« (54) Die verwendeten Erasmuszitate zeigen ebenfalls eine gewisse Distanz der Einträger von der offiziellen Kirchenlinie (46). Sie sind »nie spezifisch katholisch in einer die Konfessionen trennenden Weise« (50), sondern zeigen, dass Heß in engere Beziehungen zu katholischen Studenten getreten ist. Der Anspruch, »unerwartete Kontakte zwischen protestantischen und katholischen Studenten« (s. o.) darzustellen, wird mit Hilfe dieser Einträge erfüllt. Zuzustimmen ist dem Vf. außerdem zu seiner Einschätzung: »Damit kann jedenfalls durch dieses Album amicorum erstmals bewiesen werden, daß eine erhebliche Anzahl von nicht-katholischen Studenten zumindest in den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts, aber vermutlich auch eine gewisse Zeit darüber hinaus, die Universität Löwen besuchte. Es wird in der Regel trotz der Katholizität der Universität wegen ihrer akademischen Qualität geschehen sein.« (60)
Seit 1565 weilte Heß in Nürnberg, u. a. bei Joachim Camerarius, und anschließend seit 1566 in Ingolstadt, wo durchaus auch Protestanten studieren durften und dort vor allem die Rechtswissenschaften betrieben. Hier haben sich auch einige Katholiken mit Einträgen verewigt. An mehreren Stellen gibt der Vf. Referenzstellen für die zitierten Einträge an (vgl. z. B. 80). Die meisten dieser Einträge widmen sich religiösen Thematiken, viele Einträge gehören auch zum Themenkomplex virtus; weitere Themenkomplexe betreffen »Persönliches und Berufliches« (85). Antike Autoren werden von Einträgern beider Konfessionen zitiert, insbesondere Cicero und Seneca sowie Homer. Unter den moderneren Autoren wird Erasmus häufig zitiert. Sprachliche Elemente wie »sola fide, verbum Dei« verraten die konfessionelle Herkunft ebenso wie vereinzelte Bezugnahmen auf Melanchthon. Der Vf. resümiert: »Es ist ein Dokument interkonfessioneller Freundschaften […] und beweist, daß protestantische Studenten sich immatrikuliert oder unimmatrikuliert an den an sich strikt katholisch ausgerichteten deutschen und niederländischen Universitäten Ingolstadt und Löwen in den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts in größerer Zahl aufhielten und dort studierten und dabei in aller Regel ihre bisherige Konfession bewahrten.« (87)
Abschließende Register, die Auskunft über Personen und Daten sowie Orte und verwendete Sentenzen sowie Initialen geben, runden die Edition dieses Stammbuches ab.
Das zweite hier edierte Stammbuch gehörte Johann Ulrich Henrici, der, 1678 geboren, aus der Altmark stammte und in Helmstedt, Leipzig und Halle studierte. Ferner hielt er sich im Rahmen einer ausgedehnten Bildungsreise in England und den Niederlanden auf. 1711 wurde er außerordentlicher Professor an der philosophischen Fakultät in Halle, er starb aber bereits 1712. Eine ausführ-liche Biographie zu ihm ist den Einträgen vorgeschaltet (114–120).
Die Einträge in Henricis Stammbuch umfassen in der Regel eine Widmung und einen Sinnspruch, der sich beispielsweise auf einen bekannten Locus communis bezieht; aktuelle politische Ereignisse finden keinen Niederschlag. Im Unterschied zu vielen Stamm­büchern gibt es keine erste Abteilung, in die sich Adlige eintragen konnten. Vielmehr war der jeweilige kirchliche oder akademische Rang ausschlaggebend für die Position des Eintragenden – der Berliner Bischof Ursinus von Bär steht dementsprechend an erster Stelle.
Die Einträge enthalten oft lobende Worte und Wünsche für den Besitzer. Englisch, Französisch und Spanisch tauchen jeweils einmal auf; Latein, Griechisch und Hebräisch sind ansonsten die bevorzugten Sprachen. Unter den Einträgern befinden sich Professoren aus der philosophischen, theologischen, juristischen und medizinischen Fakultät. Die Eintragungen reichen »von der gängigen anonymen Redensart bis zu entlegenen Anspielungen und Zitaten« (237), so dass, wie der Vf. zu Recht festhält, hier »eine eigene Zitatkultur« (ebd.) analysiert werden kann.
Viele Einträger tragen individuelle Wahlsprüche ein, »die sie anscheinend in solchen Fällen immer zu geben pflegten« (238). So plausibel diese These erscheint, hätte man anhand einer konkreten Person möglicherweise Beispiele anführen können, um dies exemplarisch zu belegen. Häufig wird neben dem Alten das Neue Testament zitiert, vorzugsweise die paulinischen Briefe. Bei den antiken Schriftstellern liegt Seneca vor Horaz, Homer und Tacitus. Statt der üblichen Einträge von Kommilitonen finden sich Einträge von Professoren (vor allem Theologen und Juristen) und geistlichen Würdenträgern oder auch Medizinern, Rektoren höherer Schulen, aber auch ein schwedischer Student hat sich hier verewigt. Das Album spiegelt infolgedessen ein Gelehrtenpanorama am Beginn des 18. Jh.s wider. Der Vf. resümiert diesbezüglich: »Soweit mir bekannt ist, ist bisher noch kein derartiges auf die akademische und interkonfessionelle Welt konzentriertes Stammbuch aus der Zeit um 1700 eingehend untersucht und ausgewertet worden« (103). Aufs Ganze gesehen handelt es sich somit nicht um ein übliches Freundschaftsalbum, sondern vielmehr um ein Album auctoritatum, und dementsprechend gilt die Widmung des Besitzers den Patronis et Fautoribus (101).
Unter den Einträgern finden sich so prominente Namen wie Pierre Bayle, Christian Thomasius, Daniel Ernst Jablonski, Buddeus, Samuel Stryk und Paul Anton. Angesichts dessen kommt der Vf. zu folgender Einschätzung: »Das Besondere dieses Stammbuchs liegt also in der sehr weitgehenden Rep[r]äsentation von geistig prominenten und zumeist auch heute noch bekannten Persönlichkeiten im in der Regel nicht-katholischen, mittel- und norddeutschen, niederländischen und englischen Raum um 1700, von denen die meisten bisher aus Stammbucheinträgen noch nicht bekannt sind.« (102 f.) Interessant ist die Vielzahl der bei den Einträgern vertretenen Konfessionen, die u. a. Reformierte, Arminianer, Hugenotten, Anglikaner, Mennoniten und einen Jesuiten umfassen.
Der erste Eintrag, aus Helmstedt, ist ein Senecazitat: »Ein guter Geist besitzt ein Königreich« (122). Ein Medizinprofessor namens J. A. Stisser hat sich mit einem offensichtlich der eigenen Berufspraxis entnommenen Spruch verewigt: »Der Arzt hat drei Gesichter, ein engelhaftes, wenn er gebeten wird, dann,wenn er hilft, ist er selbst ein Gott. Danach, wenn er nach Behandlung der Krankheit sein Honorar fordert, erscheint er als grausiger und schrecklicher Satan.« (130)
Seit dem Sommersemester 1699 war Henrici in Leipzig. Hier kamen Einträge hinzu wie beispielsweise vom Dekan der theologischen Fakultät, Johannes Olearius, die schlicht »Besonnen, gerecht und fromm« (138) lauten, während ein anderer Einträger den Rat gibt: »Sic stude tanquam semper victurus/ Sic vive tanquam quotidie moriturus.« (141) Auch einige hebräisch verfasste Einträge finden sich im Album (z. B. 147), wie auch der Eintrag eines schwedischen Studenten, der zu Besuch in Leipzig war (149).
Zwischen 1701 und 1702 studierte Henrici in Halle und sammelte dort Einträge von Buddeus, Breithaupt und Anton, dessen Eintrag lautet: »Die Klugheit, die das Kreuz Christi flieht, ist eine Pest für die Kirche, ein Feind Gottes, ein Hindernis für die eigene Bekehrung und die Bekehrung anderer sowie für die gesamte Orthodoxie.« (154) A. H. Francke trug – in Griechisch – ein: »Nicht auf der Weisheit der Menschen, sondern auf der Weisheit Gottes.« (154), und von Thomasius erhielt Henrici den, durchaus zur Interpretation anregenden, Eintrag: »In spe et silentio/ Speremus. Veniet tempus gaudendi./ Sileamus. Veniet tempus loquendi.« (157)
Auf individuell bedingte Besonderheiten der Einträge weist der Vf. bei Gelegenheit hin, zum Beispiel, wenn er im Hinblick auf den Eintrag des Wittenberger Theologen Deutschmann erläutert: »Jetzt war er 78jährig, und sein Eintrag ist sehr zittrig und offenbar nach einem Schlaganfall oder mit mangelnder Sehkraft geschrieben.« (159)
Auch aus Städten wie Berlin brachte Henrici neue Einträge mit. So trug sich der Hof- und Domprediger Ursinus von Bär, der als ranghöchster Einträger galt, 1710 mit dem kurzen Merkspruch »Deo displicet, qui sibi placet« (176) ein.
Auch von einer gelehrten Bildungsreise, die Henrici 1705 nach England(u. a. London und Oxford) und in die Niederlande (u. a. Amsterdam und Rotterdam) führte, brachte er neue Einträge mit. Zentrales Motiv dieser Reise war, so vermutet der Vf., das Interesse an den calvinistischen beziehungsweise anglikanischen Kirchenstrukturen (vgl. 182). Aufgrund der Datierungen der Einträge kann beispielsweise auch die Reisegeschwindigkeit von Henrici und seinen Begleitern erschlossen werden.
In London erhielten sie vom Rektor des Trinity College, Richard Bentley. den griechisch verfassten Eintrag: »Gesundheit und Verstand sind zwei sehr gute Dinge für das Leben.« (212) In Rotterdam trug sich Pierre Bayle mit folgenden Worten ein »Frieden ist das Beste, was einem Menschen zu kennen gegeben ist; ein einziger Friede ist besser als unzählige Triumphe« (215). Einer der Gegner Bayles, der Theologe Pierre Jurieu, trug sich am selben Tag ein, mit dem pessimistisch gestimmten Vergilzitat »Die besten Tage entfliehen den armen Sterblichen zuerst« (216). Ein Eintrag aus Leiden von dem dortigen Privatgelehrten Thomas Crenius enthält die an die Reisenden gerichtete Warnung ­»Peregrinantes facile obliviscuntur FORMULAE« (217). 1705 gelang es Henrici auch den Eintrag eines katholischen Geistlichen zu erlangen. Der Kölner Domprediger Matthias Heimbach trug sich mit dem bekannten »Memento mori« (227) ein.
In einem neunten und resümierenden Schlusskapitel werden abschließend die »Gestaltung der Einträge und der Humanismus um 1700« thematisiert (233–244). Der Vf. verweist darauf, dass zeitgenössische Politik keinen Niederschlag in den Einträgen gefunden hat und beispielsweise Begriffe wie Frieden nicht politisch, sondern religiös interpretiert wurden. Die Funktion des abschließenden Abschnittes, in dem der Begriff des Späthumanismus problematisiert wird, erschließt sich im Gesamtkontext des Buches allerdings nicht, sondern bietet vielmehr einen um neueste Forschungen ergänzten Abriss zur Begriffsgeschichte »Späthumanismus«.
Nach der Lektüre dieses Buchs kann dem Vf. zugestimmt werden zu seiner eingangs formulierten Einschätzung, dass Stammbücher »Aufschlüsse im Bereich der Alltags-, Bildungs-, Kirchen-, Literatur- und Universitätsgeschichte« (5) bieten, die auch für den Kirchenhistoriker mitunter wertvoll sein können.