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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1333–1335

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lindemann, Gerhard

Titel/Untertitel:

Für Frömmigkeit in Freiheit. Die Ge­schichte der Evangelischen Allianz im Zeitalter des Liberalismus (1846–1879).

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2011. 1060 S. = Theologie: Forschung und Wissenschaft, 24. Geb. EUR 129,90. ISBN 978-3-8258-8920-3.

Rezensent:

Klaus Fitschen

Die Evangelische Allianz gehört zu jenen transnationalen Bewegungen, die schon im 19. Jh. eine Vorform der ökumenischen Bewegung darstellten und wie der CVJM bis heute Bestand haben. Gerhard Lindemann hat in seiner Habilitationsschrift die ersten 31 Jahre dieser Bewegung dargestellt. Die zeitliche Abgrenzung ergibt sich dadurch, dass die Zeit des Liberalismus, aber nicht mehr die des Imperialismus behandelt werden soll, wobei ein Ausblick in die Entwicklung der Allianz in dieser Zeit der Abgrenzung noch etwas mehr Plausibilität verliehen hätte. Die Darstellung hat viele Perspektiven, fruchtbar ist in jedem Falle, dass nicht nur eine Erfolgsgeschichte erzählt wird, sondern auch die inneren Probleme ins Auge gefasst werden, die nicht zuletzt aus einem wachsenden Nationalismus resultierten. Ein immer wiederkehrendes Thema ist die Frage, wie man sich die Beziehung von Kirche und Staat vorstellte. Die protestantischen Mehrheitskonfessionen in Europa wollten an den etablierten Verhältnissen festhalten, und so waren in England auf Seiten der dominanten anglikanischen Kirche we-nige Sympathien vorhanden. Die Freikirchen wollten Gleichberechtigung nach amerikanischem Vorbild auch um den Preis einer Trennung von Staat und Kirche, registrierten aber auch aufmerksam Sympathien führender Politiker und Monarchen für die Allianz. Dafür, dass die Allianz wie später die ökumenische Bewegung von den Verhältnissen in der internationalen Politik beeinflusst war, steht beispielhaft das durch den Deutsch-Französischen Krieg bedingte Scheitern des Projektes, 1870 eine Generalkonferenz in New York zu veranstalten – ebendies sollte die Antwort auf das Konzil in Rom sein, die Tagung fand dann erst 1873 statt.
Die Darstellung ist in vier Teile gegliedert: die Gründungsphase (1840–1849), die Phase der politischen Reaktion (1849/50–1858), die Phase der Entstehung und Formierung des Staatensystems und der wirtschaftlichen Prosperität und politischer Liberalisierung (1859–1873) und die Phase des Ausklangs des liberalen Zeitalters (1874–1879). Für alle Phasen werden Aspekte der inneren Entwicklung der Allianz wie der äußeren politischen Bedingungen entfaltet, wobei immer wieder deutlich wird, dass es sich tatsächlich schon früh um eine globale Bewegung handelte, die allerdings von Vertretern aus Großbritannien dominiert wurde, wo auch das Zentrum der Aktivitäten lag, wenn es etwa um die Sonntagsheiligung ging. Wie un­terschiedlich sich die Allianz in einzelnen Ländern entwickelte, macht die Berücksichtigung der Geschichte der Zweigvereine deutlich. Ebenso erfährt man vieles über die Lage protestantischer Minderheiten im Osmanischen Reich, im Zarenreich und in Südeuropa und über den Versuch von Vertretern der Allianz wie der britischen Diplomatie, ihnen Erleichterungen zu verschaffen. Die Durchsetzung der Religionsfreiheit war darum ein wesentliches Movens der Bewegung, die wie eine frühe NGO selbstbewusst Minderheitenschutz betrieb, indem sie Beobachter entsandte, Berichte verfasste, appellierte und (vor allem in Großbritannien) nach politischer Rückendeckung suchte. L. spricht in seiner Bilanz von einem Beitrag zur Entstehung einer europäischen Zivilgesellschaft (943). Für Deutschland hieß dies, dass Beobachter aus England die Verfolgung vor allem von Baptisten genau beobachteten, sich Vertreter der Allianz später aber auch kritisch zum Kulturkampf äußerten.
Schon als Spross der Erweckungsbewegung war die Evangelische Allianz Teil transnationaler Netzwerke, die sich relativ wenig aus den tradierten innerprotestantischen Konfessionsdifferenzen machten, was natürlich in England und den Vereinigten Staaten wesentlich konkretere Hintergründe hatte als anderswo. Dass die Gründungsgeschichte nicht ohne Konflikte ablief, wird ebenso deutlich wie die Mühe, die auch später darauf verwendet werden musste, nach Einheit zu suchen. Ein wesentlicher Punkt bei der Gründung im Jahre 1846 war eine heftige Kontroverse über die Haltung zur Sklaverei in Nordamerika, die von den meisten abgelehnt und mit teilweise bewegenden Redebeiträgen verurteilt wurde. »Praktisches Christentum«, aber auch die Politik (unter Einschluss der britisch-amerikanischen Differenzen) war also schon früh ein ökumenisches Thema, aber auch die Frage, was sich mit dem Schriftprinzip anfangen lässt, wenn man ein Ja wie ein Nein zur Sklaverei aus der Bibel herauslesen kann. Dementsprechend kam es zu einer nachhaltigen Gründung der Allianz in den Vereinigten Staaten auch erst nach dem Ende des Bürgerkrieges.
Unter den vielen inhaltlich interessanten Aspekten lässt sich auch der der deutschen Beteiligung herausgreifen: Hier nahm man in den Kreisen der Erweckten vor allem in Preußen sehr wohl Notiz von der Gründung, und auch der fromme Friedrich Wilhelm IV. interessierte sich (75 f.). Die Hoffnung, der diagnostizierten Entkirchlichung (für die man den Rationalismus und später den theologischen Liberalismus verantwortlich machte) entgegenzuwirken, war ein wesentliches Motiv des Interesses, ein anderes natürlich, die Grenzen zwischen Lutheranern und Reformierten zu überwinden, wobei die preußische Union eher abschreckend wirkte (189 f.) und das Luthertum den wohlfeilen Vorwurf auf sich zog, besonders intolerant zu sein. Da die konfessionellen Verhältnisse in Deutschland weniger plural waren als in anderen Ländern, fehlte das Potential der Freikirchen. Eine Barriere stellten auch die mangelnden Englischkenntnisse dar. Das ehrgeizige Projekt des preußischen Königs, eine Allianzkonferenz in Berlin zu veranstalten, kam zwar 1857 zur Verwirklichung, doch war die Ablehnung in preußischen Kirchenkreisen groß, weil man die Allianz als Organ zur Beseitigung der staatlichen Kirchenhoheit ansah (399–411). Zu dieser Zeit und auch später galt die Allianz vielen Beobachtern in Deutschland auch als Organ der englischen Außenpolitik. Insgesamt blieb die organisatorische Basis in Deutschland lange schwach, dies galt auch für den häufig als Ersatz für die Allianz betrachteten Kirchentag.
Dass die Allianz seit ihrer Gründung eine Vereinigung von Privatpersonen und nicht von Kirchen war (und insofern also nur sehr bedingt ein Vorläufer der Ökumene), war Chance wie Problem, wenn auch wie bei der ökumenischen Bewegung des 20. Jh.s der Vorwurf aufkam, sie wolle eine Superkirche über den Kirchen sein (100.743). Dem erstarkenden ultramontanen Katholizismus meinte man nun selbstbewusst gegenübertreten und auf das Erste Vatikanische Konzil mit einer Generalkonferenz, die als ökumenisches Konzil verstanden wurde, eine Antwort geben zu können (738 f. 748). Schwierig war allerdings trotz der »Basis« von 1846 die Suche nach einer theologischen Grundlage, die auch das Amts- und Sa­kramentsverständnis betreffen musste, aber nicht zuletzt die Frage, wie es wohl mit der Versöhnung und den Höllenstrafen stehe. Die Frage nach »Glaube und Kirchenverfassung« ließ sich also nicht ausblenden, auch nicht durch die Betonung einer geistlichen, im Gebet verwirklichten Gemeinschaft.
Die Darstellung ist gründlich, quellengesättigt und sehr detailliert, so dass ein Umfang von über 1000 Druckseiten mit fast 10000 Fußnoten zustande kommt, die manchmal mehr als den halben Seitenumfang ausmachen. Hier und da hätten die Referate von Redebeiträgen und Publikationen doch gekürzt werden können, so lebendig sie die Debatten für die Leserschaft andererseits machen.