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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1330–1332

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hahn-Bruckart, Thomas

Titel/Untertitel:

Friedrich von Schlümbach – Er­weckungsprediger zwischen Deutschland und Amerika. Interkulturalität und Transkonfessionalität im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 520 S. = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 56. Geb. EUR 84,99. ISBN: 978-3-525-55804-1.

Rezensent:

Markus Wriedt

Dass die erweckliche Frömmigkeit in Deutschland im 19. Jh. einen erheblichen Impuls aus Nordamerika erhielt, ist inzwischen Gemeingut zahlreicher Darstellungen der Kirchen- und Theologiegeschichte. Damit ist aber allzu häufig auch ein Verwerfungsurteil verbunden: Die erweckliche Laienfrömmigkeit der Amerikaner mag an Lebendigkeit der von Industrialisierung und Massenelend geschundenen deutschen Bevölkerung einiges voraus haben, theologisch ist sie aber wenig reflektiert und kann mit den Entwicklungen der evangelischen Theologie im Heimatland der Reformation kaum mithalten. Noch in den 30er Jahren des 20. Jh.s konstatierte der von der Frömmigkeit der amerikanischen Gemeinden tief beeindruckte Dietrich Bonhoeffer in einem Brief aus New York: »Theologie ist das hier nicht!« Zugleich wird der sich aus vielen Quellen speisende Strom der Erweckung von den Entwicklungen des Spätpietismus deutlich geschieden und typologisch different betrachtet.
In einer sorgfältigen Analyse des durch die nach Deutschland importierte Bewegung des CVJM – die Gründung des ersten Vereins erfolgte in Berlin 1883 – bekannt gewordenen methodistischen Predigers Friedrich von Schlümbach (1842–1901) legt Thomas Hahn-Bruckart einen wichtigen Grundstein für die weitere Beschäftigung mit der Gemeinschaftsbewegung und erwecklichen Strukturen innerhalb der Christentumsgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s.
Friedrich von Schlümbach stammte aus Württemberg und war 1859 im Alter von 17 Jahren nach Amerika ausgewandert. Im Bürgerkrieg avancierte er trotz eines nicht völlig tadellosen Rufes und unsteten Lebenswandels bis zum Rang eines Obersten. Ein Bekehrungserlebnis 1868 – im Kontext persönlicher Krisen, die u. a. durch den Tod seines zweiten Kindes ausgelöst wurden – im Hause des Generals Albright und der methodistischen Mauch Church in Pennsylvania führte zu weiterem christlichen Engagement für deutschsprachige Truppenteile und zur Zusammenarbeit mit der interkonfessionell tätigen Christian Commission.
Nach dem Ende des Krieges wählte Schlümbach Pennsylvania zu seiner künftigen Heimat und begann, sich in der englischsprachigen methodistischen Kirche zu engagieren. Zugleich begann er, im Selbststudium die Grundlagen zu theologischer Kompetenz, vor allem auf der Basis englischsprachiger Werke zur systematischen und historischen Theologie, zu legen. Seit 1872 wurde er mit gemeindeleitenden Aufgaben betraut und stieg in den Folgejahren bis zum auf Lebenszeit berufenen Ältesten auf. Seit 1874 diente er dem Nationalbund Deutscher Christlicher Jünglingsvereine als Generalsekretär. Aufgrund zahlreicher negativer Berichte über die Situation in Deutschland begann er 1875 eine ausgedehnte Europareise und nahm seit 1879 die Aufgaben des German Secretary des International Commitee des YMCA wahr, die ihn fortan ständig auf Reisen hielt.
Nach einer schweren gesundheitlichen Krise nahm Schlümbach 1881 seine Reisetätigkeit wieder auf und besuchte im Juli die Weltkonferenz des YMCA, um im Anschluss weiter nach Deutschland zu reisen. In Verbindung mit einem Evangelisationskomitee um Theodor Christlieb, Adolf Stoecker, Andreas Graf von Bernsdorf und Jasper von Oertzen entwickelte er ein koordiniertes Programm zu einer Evangelisationskampagne mit Schwerpunkt in Berlin. Die enge Verbindung der Evangelischen Synode von Nord-Amerika mit der Preußischen Unionskirche erleichterte den Austausch zwischen amerikanischem Vereinschristentum und landeskirch-lichem Christentum. Schlümbach entfremdete sich von der methodistischen Kirche und ihren Organisationsformen und trat aus der Gemeinde aus, um als freier Evangelist nicht mehr deren Ordnungen unterworfen zu sein. Später sollte er betonen, dass er in Deutschland wieder Zugang zur Volkskirche gefunden habe (428).
Dennoch kehrte er mit einigen Emigranten in seine frühere Gemeinde in Waco TX zurück, um dort eine Kolonie auf christlicher Basis zu begründen. Zugleich reiste er jedes Jahr für mehrere Mo­nate nach Deutschland, um die Evangelisationsarbeit für den CVJM fortzusetzen. Das Scheitern seiner Pläne zur Gründung eines Missionshauses, finanzielle Verpflichtungen, aber auch private Probleme zehrten an Schlümbachs Kräften, so dass er sich seit den 90er Jahren immer stärker ins Private zurückzog. Der Wechsel nach Cleveland fiel zusammen mit der Scheidung von seiner Frau Coe-lestine, was die Zusammenarbeit mit der Evangelischen Synode erheblich belastete und zum Austritt der Gemeinde in Cleveland aus dem Verbund führte. Er heiratete in zweiter Ehe, aus der auch wieder Kinder hervorgingen, von denen allerdings ein Sohn 1898 verstarb. Die Kontakte nach Deutschland schliefen zunehmend ein und wurden durch ungeklärte Gerüchte über Lebenswandel und Schicksal des Predigers zusehends belastet.
Die akribische Analyse dieser Biographie ist zunächst das Verdienst von H.-B. Darüber hinaus macht seine Darstellung allerdings auch deutlich, dass die Theologie- und Kirchengeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s sich den bewährten Mustern und Charakterisierungen zunehmend entzieht. Im Gegenteil: Die interkulturellen und religiösen Dynamiken des transatlantischen Theologietransfers erweisen sich als komplexes reziprokes Geschehen (467). Jegliche Eindeutigkeit wird durch die faktischen Ereignisse und Entwicklungen konterkariert. Vielmehr sind zahlreiche Übersetzungsversuche zu konstatieren, welche in steter Interdependenz und Wechselbeziehungen verlaufen, die eine präzise Zuordnung verhindern. Neben die religiös-landsmannschaftliche Prägung des früh emigrierten Württembergers treten mannigfaltige biographische Brüche und Beeinflussungen höchst unterschiedlicher Provenienz: Militär, methodistische Gemeindefrömmigkeit, Erweckung und Gemeinschaftsbewegung, Reisetätigkeit in turbulenter Zeit (Ende des amerikanischen Bürgerkrieges, der in Nordamerika lange als Trauma nachwirkte, die Reichsgründung in Deutschland vor dem Hintergrund sozialer Krisen und des konfessionell ausgefochtenen Kulturkampfes) und die Wahrnehmung einer Großstadtfrömmigkeit, die so auch in Amerika noch nicht bestand.
So nimmt es nicht wunder, dass Schlümbach zwischen erwecklicher Frömmigkeit, gemeindlicher Einbindung, Evangelisation und schließlich volkskirchlichen Strukturen hin- und herschwankte. Nur bedingt lässt sich diese Biographie theologisch reflektieren und verarbeiten. Vielmehr ist der von zahlreichen Wechseln, Brüchen und Krisen geprägte Lebensweg geradezu typisch für diese äußerst wirkmächtige Form evangelischer Frömmigkeit zu nennen. Sie entzieht sich, das kann nicht oft genug betont werden, den in Lehrbüchern gern reproduzierten klassischen Zuschreibungen theologischer Grundströmungen und wird deswegen mit pejorativer Konnotation als erwecklich marginalisiert. Der reiche und spannende Lebensweg Schlümbachs zeigt al­lerdings zugleich die breite Rezeption und Wirkmächtigkeit solcher Schicksale, die es verbietet, sie nurmehr als Randphänomen evangelischer Frömmigkeit und Kirchenentwicklung zu betrachten.
Es ist H.-B. zu verdanken, dass er hier Licht in das Dunkel dieser Entwicklungen gebracht hat. Zugleich macht diese Arbeit deutlich, wie viel Arbeit noch im Blick auf die Erforschung transatlantischen Theologie- und Frömmigkeitstransfers wartet. Auch wenn Schlümbach in gewisser Weise typisch für diesen Austausch ist, so bleibt seine Biographie individuell und lässt sich seine Erfahrungswelt und deren theologische Reflexion nicht fraglos verallgemeinern.