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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1292–1293

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wayment, Thomas A.

Titel/Untertitel:

The Text of the New Testament Apocrypha (100–400 CE)

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2013. XII, 409 S. m. Abb. Geb. £ 120,00. ISBN 978-0-567-04761-8.

Rezensent:

Tobias Nicklas

Thomas Wayments Kollektion von Fragmenten und Manuskripten christlicher Apokryphen in griechischer Sprache ist ein wertvoll und aufwändig aufgemachter Band mit einer Vielzahl hochwertiger Fototafeln, den man – wenigstens auf den ersten Blick – gerne zur Hand nimmt. Eine genauere Durchsicht offenbart jedoch sehr schnell eine Reihe von Mängeln, die die Benutzung erheblich erschweren.
Bereits bei der ersten Durchsicht durch die Kollektion stellt sich die Frage, warum bestimmte Fragmente aufgenommen wurden, andere jedoch nicht: Soll man Barnabasbrief, Didache und Hirt des Hermas, die im Band vertreten sind, als »neutestamentliche Apokryphen« einordnen? Immerhin wurde etwa der Hirt des Hermas in der Alten Kirche üblicherweise nicht als »apokryph« bezeichnet und sind alle drei genannten Schriften aus heutiger Sicht den Apostolischen Vätern zuzuordnen. Warum jedoch fehlen andere Texte wie etwa das Fragment der (mit höchster Wahrscheinlichkeit christlichen) Oden Salomos aus dem gleichen Bodmer Codex, aus dem das Manuskript des Protevangeliums Jakobi und des 3Kor angeboten wird? Warum wird (unter weitgehender Missachtung der Diskussion) P.Oxy. 4009 dem Petrusevangelium zugeordnet? Warum fehlt P.Dura 10, Fragment einer Evangelienharmonie – eventuell des Diatessarons – aus Dura Europos? Warum wird ein Fragment der < /span>Sophia Jesu Christi (P.Oxy. 1081) unter »narrative Gospels« eingeordnet? Und worin besteht der Unterschied zwischen »narrative Gospels« und »unidentified fragments«, wenn P.Oxy. 210 als »narrative Gospel« eingeordnet wird, aber natürlich auch unidentifiziert bleibt wie P.Oxy. 2069, das unter »unidentifizierten Fragmenten« begegnet?
Der Band möchte sich einerseits als »Edition« verstehen (vgl. 5 ff.), die einleitenden Bemerkungen starten jedoch mit dem frappierenden Satz »In some instances grammar and orthography have been corrected to help facilitate translation« (5) – an wen wendet sich die Ausgabe? An Wissenschaftler, die doch eigentlich in der Lage sein sollten zu übersetzen? Oder an Studierende – dann wäre eine Übersetzung vielleicht angebracht gewesen. Auch wenn die Eingriffe offenbar minimal geblieben sind, irritiert eine derartige Aussage doch – und stellt vor die Frage, wie verlässlich denn das Dargebotene ist, wenn Eingriffe bis in die Grammatik hinein geschehen sind. Dieser Eindruck verstärkt sich zudem, wenn bei genauerem Durchsehen doch deutlich wird, dass bei Weitem nicht jeder Akzent in den Textausgaben richtig sitzt.
So sehr man einer Ausgabe wie der vorliegenden nicht vorwerfen sollte, dass sie keine kompletten bibliographischen Angaben liefert, so sehr sollte man doch verlangen können, dass sie einigermaßen auf dem neuesten Stand der Diskussion ist. Dies ist hier jedoch eindeutig nicht der Fall – eine Vielzahl der bibliographischen Angaben bezieht sich nicht auf das jeweils vorgestellte Fragment bzw. Manuskript, sondern (immer wieder nur recht vage) auf Aspekte der Schrift, die auf dem Manuskript vorgestellt wird. Die Auswahl der Literatur scheint mehr oder minder nach dem Zufallsprinzip zu erfolgen – gerade für Apokryphen wichtige französische und italienische Arbeiten werden nahezu komplett ignoriert, in geringerem Maß gilt dies auch für deutschsprachige Literatur, besonders erstaunlich jedoch ist, dass selbst entscheidende englischsprachige Literatur zumindest teilweise unbekannt scheint – erwähnt sei nur das im Grunde sehr ähnlichen Zielen wie der vorliegende Band dienende Gospel Fragments (hrsg. von T. J. Kraus,M. Kruger, T. Nicklas, Oxford Early Christian Gospel Texts; Oxford 2009) mit maßgeblichen Neueditionen von Texten, die auch im vorliegenden Band begegnen (z. B. P.Egerton 2; P.Oxy. 840 u. v. a.), welches komplett ignoriert ist. Ein Zeichen mangelnder Präzision, wie sie doch für eine Edition nötig wäre, scheint mir zudem, wenn Werktitel wie Autornamen (Nierynck statt Neirynck; Peuch statt Puech etc.) immer wieder falsch geschrieben werden; gleichzeitig werden Schriften in den Bibliographien unpräzise zugeordnet: J. B. Daniels wichtige, leider unpublizierte Dissertation zu P.Egerton 2 ist eine Studie zum Text, sicherlich aber nicht Edition (180); Editionen dieser Schrift, die vor der Entdeckung und Zuweisung von P.Köln 255 entstanden, sind zudem heute nur teilweise brauchbar.
Die kurzen Einleitungen zu den jeweiligen Fragmenten bzw. Manuskripten wiederum sind von sehr unterschiedlicher Brauchbarkeit. Paläographische Angaben werden so knapp (oder auch un­vollständig) angeboten, dass sie nur selten wirklich weiterhelfen. Da die Erstausgaben in vielen Fällen tatsächlich nicht mehr überall erreichbar sind, wäre es hier sinnvoll gewesen, möglichst sauber, umfangreich und einem erkennbaren System folgend Mate-rial darzubieten. Bei der Wiedergabe der Texte selbst wiederum wäre es durchaus hilfreich gewesen, anzugeben, welche Ausschnitte des jeweils größeren Ganzen hier vorliegen. So schön schließlich die am Ende des Bandes angebotenen Fotografien wirken, so wenig hilfreich sind sie, da in keinem Falle ein Maßstab angeboten ist, der ihre tatsächliche Größe einzuschätzen hilft. Um sie auf Seitengröße zu bringen, sind einige Fragmente offenbar deutlich vergrößert, die meisten in unterschiedlichen Maßstäben verkleinert worden; Fo­tografien vor schwarzem Hintergrund wiederum (z. B. 315 f.370 f.) können dahingehend in die Irre führen, dass Löcher im Fragment und Tintenreste nicht mehr unterscheidbar werden.
So hinterlässt dieser Band einen äußerst zwiespältigen Eindruck– so gerne man ab und an in ihm blättern mag, um die schönen Bilder zu bewundern, so wenig mag er als wirklich zuverlässiges Hilfsmittel bei der Arbeit an christlichen Apokryphen dienen.