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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1198–1200

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schwartz, Maria

Titel/Untertitel:

Der philosophischebios bei Platon. Zur Einheit von philosophischem und gutem Leben.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Karl Alber 2013. 463 S. = Alber Symposion, 134. Geb. EUR 49,00. ISBN 978-3-495-48613-9.

Rezensent:

Harald Seubert

Die Monographie von Maria Schwartz, die aus einer preisgekrönten, von Friedo Ricken betreuten Dissertation an der Münchener Hochschule für Philosophie hervorgegangen ist, widmet sich einem großen und umfassenden Thema, das in der Platonforschung weniger stark behandelt wurde, als man vermuten würde: der Frage nach dem philosophischen Leben. Die Arbeit ist eine hervorragende hermeneutische Leistung, uneitel, nicht an Moden orientiert sachlich, abwägend, von ausgezeichneter Kenntnis des Platonischen Dialogwerks geprägt. Zunächst grenzt S. ihr Untersuchungsinteresse von den verschiedenen Richtungen der »Lebens­philosophie« und einer »Philosophie der Lebenskunst« ab, die im Anschluss an den von S. doch unterschätzten späten Michel Foucault in Umlauf kamen. Die Arbeiten von Pierre Hadot hebt sie aber ausgesprochen positiv hervor.
Sie beschreibt sodann souverän und knapp, was wir über das Leben in der platonischen Akademie wissen und wie man es sich vorzustellen hat. Der VII. Brief ist für ihre Argumentation im Folgenden immer wieder von besonderer Bedeutung. Daher wird ein überzeugendes Plädoyer für dessen Echtheit geliefert. S. macht im vierten Kapitel die Protreptik der mittleren Sokratesdialoge und der Apologie für die philosophische Lebensform sichtbar. Dabei weist sie darauf hin, dass die Selbstprüfung das idion ergon der Sokratischen Lebensform ist. Der Bios des Sokrates unterscheidet sich von den Lebensformen der Sophisten darin, dass er nicht in der Antilektik verharrt, dass er den Gesprächspartner nicht niederzwingen will, sondern vielmehr die Einsicht in das Nichtwissen als Möglichkeit zur Erkenntnis versteht.
S. wendet sich dabei zu Recht besonders gründlich den frühen aporetisch endenden Sokratesdialogen zu. So zeigen sich eindrücklich in Interpretationen zum Laches die Gefahren einer Diskrepanz zwischen Handlungen und Worten. Profiliert und wohlbegründet betont S. aber, dass der Elenchos, die Zerstörung des falschen Anscheins, für die philosophische Lebensform nicht hinreichend ist. Er gewinnt seinen Sinn, weil die Erwartung besteht, dass das gesuchte Gute existiert und gefunden werden kann. Insofern ist der Elenchos auch nicht nur Teil der philosophischen Protreptik. Er wird in den höherstufigen Philosophiebegriff der späteren Dialoge integriert. S. argumentiert, dass man in diesem Sinn auch die Entwicklung Platonischen Denkens als Kontinuität verstehen könne. Nichts weist auf eine grundlegende Revision hin, wohl aber auf Integration und Erweiterung.
Dabei erweist es sich als naheliegender und glücklicher Einfall, dass S. den Platonischen philosophischen Bios den beiden anderen paradigmatischen antiken Lebensformen kontrastiert, auf die Platon vielfach abgrenzend Bezug nimmt, nämlich einerseits dem Leben aus Lust und andererseits dem Leben aus der Ehre (timé). Auch hier legt sie Querschnitte durch verschiedene Platonische Dialoge, um zu einem differenzierten Befund zu kommen. Im Gorgias weist Platon einen »kruden Hedonismus« zurück, der auf ein tyrannisches Selbstverhältnis der Seele schließen lässt. Demgegenüber wird im Protagoras-Dialog ein »differenzierter Hedonismus« entwickelt, der auch sublimere Formen von Lust expliziert. Die Politeia versteht S. zu Recht als das Werk, in dem die verschiedenen Argumentationsstränge zusammenlaufen. Platon expliziere dort gegenüber jedwedem Hedonismus das Profil eines einfachen und maßvollen Lebens und die Philosophie als Garantin wahrer Lust. Eigenes Augenmerk wird auf den Philebos gelegt, der das Profil eines maßvollen, aus Lust und Vernunft gemischten Lebens entwickelt. Die Lust bleibt für ein nicht-philosophisches Leben unerlässlich. Sie muss aber in ihrer Geltung entthront und auf einen niedrigeren Rang gesetzt werden. Im VII. Brief, der auch hier eine Schlüsselstellung einnimmt, wird die »dorische Lebensform«, die Besonnenheit und konzentrierte Zuwendung zu den Ideen und der Wahrheit einfordert, als Voraussetzung der Philosophie expliziert.
Der zweite Bios, von dem die philosophische Lebensform zu unterscheiden ist, das Leben nach der Ehre, kann seinerseits einen asketischen Verzicht auf Lust nahelegen. Doch dies geschieht nicht um der Erkenntnis und Einsicht willen. Im Phaidon wird eine der Liebe zum Leib (philosomatos) gewidmete Lebensform von einer zweiten unterschieden, die der Ehrliebe gilt (philotimos). S. sucht deshalb zunächst das Verhältnis von Ehre einerseits, körperlicher Lust und Besitzstreben andererseits zu klären. Hier stützt sie sich primär auf den Gorgias und den Phaidon. Dann diskutiert sie Ehre im Verhältnis zu Agon und Machtgewinn. Auch dabei zeigt sie eindrücklich, wie in der Politeia verschiedene Linien zusammenkommen. Sie zeigt, dass schon Platon eine »mittlere Lebensform« bevorzugt, wie sie mit der Aristotelischen Mesotes-Lehre argumentativ festgeschrieben wird.
Die Überwindung der Ehrsucht muss aber nicht notwendigerweise zu einer zurückgezogenen Lebensform führen. Der Rückstieg vom Ideenlicht in die Höhle, den Platons Höhlengleichnis in der Politeia nahelegt, zeigt vielmehr, dass der Idealzustand erst er­reicht ist, wenn der Philosoph »Gelegenheit hat, seine Erkenntnisse einzusetzen, in der Orientierung am Guten und an der Gerechtigkeit«. Damit verbindet sich, dass er auch gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen vermag.
Eine zweifache These durchzieht die Interpretationen von S.: Zum einen unterstreicht sie zu Recht die oft übersehene Nüchternheit und argumentative Klarheit der Bestimmungen zur Lebensform; zum anderen aber betont sie, dass Platon keineswegs einen »Hiatus irrationalis« zwischen den Philosophen und anderen vernunftbegabten Menschen aufreißt. Der Weg zur Philosophie stehe schon bei Platon prinzipiell jedem Menschen offen. Einen ersten Prüfstein findet diese Deutung an der Frage, ob die Philosophie zur Einsamkeit disponiere oder ob nicht gemeinsames Symphilosophieren erforderlich ist. Dies wird am Symposion angezeigt, dessen Charakter als Denkdrama und Evokation mythischer Schau bislang im Hintergrund geblieben war. Die Erosbewegung entspringe zwar offensichtlich der Begegnung mit anderen Menschen. Doch die Plötzlichkeit der Ideenschau (Symp. 210e4) sei ein einsamer Akt, der zudem mit dem Topos des der Welt entrückten Sokrates verbunden ist. Die Entfaltung jener Schau aber, das »Zeugen« in den Seelen anderer hebt die Vereinzelung und Vereinsamung auf und ist dezidiert auf Gemeinsamkeit bezogen. Ein weiteres berührendes Kapitel gilt dem Zusammenhang philosophischer Lebensweise mit der Haltung zum Tod, wobei S. darlegt, dass die Freiheit von der Todesfurcht zwar auch auf nicht-philosophische Weise befördert werden kann. Ihre eigentliche Realisierung ist aber die philosophische. Der Lebenswahl am Ende von Politeia X, in der Notwendigkeit und freie Entscheidung kunstvoll miteinander verwoben werden, widmet S. in diesem Zusammenhang eine der luzidesten Interpretationen, die die jüngere Forschungsgeschichte hervorgebracht hat.
Am Ende der Monographie wirft S. zu Recht noch einmal die entscheidende Frage auf, was philosophisches Leben sei und wer dessen Ansprüche erfüllen könne. Dabei unterscheidet sie zwei Arten philosophischen Lebens: den bios theoretikos, der den ausschließlich mit der Philosophie befassten Philosophen vorbehalten ist, und ein Leben, in dem das vernünftige Seelenvermögen vorherrscht, auch wenn Lust- und Ehrliebe deshalb keineswegs ausgelöscht sind. Diese Unterscheidung wird zwar von Platon in dieser deutlichen und distinkten Weise nirgends getroffen. Sie kann aber einer sorgfältigen durchgehenden Interpretation des Platonischen Dialogwerks sehr wohl abgewonnen werden.
S. bekräftigt damit ihre leitende These, dass die philosophische Lebensweise nicht einigen wenigen, entrückten Geistern vorbehalten sei, sondern dass sie jedem Menschen prinzipiell zugänglich sei. Die zuerst genannte, im dezidierten Sinn philosophische Le­bensform erfordert höchste Konzentration. Wie Platon noch in den Nomoi betont, dürfe »keine von den anderen Nebenbeschäftigungen zum Hindernis werden« (Nomoi 807c3–d6). Die weiter gefasste philosophische Lebensform ist aber durchaus mit anderen Tätigkeiten vereinbar. Jedwede philosophische Lebensweise aber, auch jene im weiteren Sinn, erfordert, dass das ganze Leben auf die höchste Zielsetzung eines Lebens im Einklang mit der Tugend ge­richtet ist.
Diese konzentrierte Interpretation übertreibt es vielleicht manchmal etwas mit der Akzentuierung der allgemeinen Zugänglichkeit des Platonischen philosophischen Lebens. Sie rückt Platon damit wieder enger an Aristoteles heran. Insgesamt aber besticht sie durch Genauigkeit und Klarheit. Sie will nicht um jeden Preis originell oder brillant sein. Gerade dadurch überzeugt sie und be­reichert unsere Platon-Kenntnisse in bemerkenswerter Weise.