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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1182–1184

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schwendemann, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Reformation und Humanismus. Philipp Melanchthon und Johannes Calvin.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2013. 390 S. = Übergänge. Studien zur Evangelischen und Katholischen Theologie/Religionspädagogik, 21. Geb. EUR 57,95. ISBN 978-3-631-64136-1.

Rezensent:

Andrea Hofmann

Der Band Reformation und Humanismus. Philipp Melanchthon und Johannes Calvin bündelt Vorträge und Aufsätze des Autors Wilhelm Schwendemann. Melanchthons und Calvins Ansätze werden in Beziehung zu aktuellen Bildungsfragen und ethischen Problemen gestellt. Die Aktualität der beiden Protagonisten sieht S. in deren Beschäftigung mit »Grundfragen christlicher Existenz«. Sie »stellen postaufklärerisch die Frage, wie eine (auch religiöse) Subjektkonstitution qua Bildungserwerb gelingen kann« (10 f.). Begrenzt werden die humanistisch geprägten Konzepte durch die Sünde, die nach Ansicht der Reformatoren nur durch das Rechtfertigungsgeschehen Gottes, nicht aber durch den Menschen selbst aufgehoben werden kann.
Vier Aufsätze befassen sich mit Philipp Melanchthon. Dessen Verhältnis zum Judentum wird als ambivalent vorgestellt (13–37). Für den christlich-jüdischen Dialog liefert die Beschäftigung mit Melanchthon »neue« Denkansätze, nämlich die Rückbesinnung auf die gemeinsame Wurzel von Judentum und Christentum und auf das unterschiedliche Messiasverständnis von Juden und Chris­ten. Das solus Christus darf heute nicht mehr absolut und antijüdisch verstanden werden, sondern als »Mitverantwortlichkeit der Heiden für Gottes Schöpfung« (32).
In zwei Aufsätzen wird Melanchthons Bildungsprogramm erörtert, das eine Verbindung zwischen Reformation und Humanismus darstellt, und in Bezug zu neueren pädagogischen Konzeptionen gestellt (39–65.67–82). Eine zentrale Bedeutung hat bei Melanchthon die Kenntnis der alten Sprachen, mit denen die biblischen Texte erfasst werden können. Diesen vom Humanismus geprägten Ansatz verbindet Melanchthon mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre. Der Mensch besitzt in äußeren Werken eine gewisse Freiheit, nämlich die zur Nutzung von Verstand und Vernunft. In der Beziehung zu Gott ist der Mensch aber unfrei. Durch Bildung kann die Trennung zwischen Gott und Mensch zwar nicht überbrückt werden, der Mensch wird jedoch befähigt, Glaubensinhalte zu verstehen und ethisch korrekt zu handeln. Heute bleibt von Melanchthon der Versuch, »eine humanistisch-kommunikative Rationalität im Unterricht zu verankern« (60). Als erster Pädagoge der Neuzeit erkennt Melanchthon dem Menschen seine Würde zu und versteht das Lernen als Form der Selbsterfahrung.
In Melanchthons Bibelauslegung zeigen sich Rückgriffe auf Aristoteles. Dieser Befund wird mit Vergleichen zwischen Melanchthon und den Philosophen Moses Maimonides und Averroes erläutert (83–120).
Vier weitere Beiträge befassen sich mit der Theologie Johannes Calvins. Ein erster Beitrag behandelt Leben und Werk und fragt mit Verweis auf Calvins Auseinandersetzungen mit Michel Servet und Sebastian Castellio nach der »Pluralismusfähigkeit als Voraussetzung für Toleranz und Gewissensfreiheit« (121–176). Toleranz als »ethische Pflicht« (148) wird als nachreformatorisches Paradigma erkannt.
Der Aufsatz zu Calvins Stellung zum Judentum (177–197) kommt zu der Erkenntnis, dass Calvin zwar immer wieder den gemeinsamen Bund von Christen und Juden betont, dass er jedoch keine besondere Toleranz gegenüber den Juden übt.
Die letzten beiden Aufsätze des Bandes sowie eine deutsche Übersetzung von Calvins Schrift Psychopannychia sind fast wortwörtlich aus S.s Dissertation Leib und Seele bei Calvin. Die erkenntnistheoretische und anthropologische Funktion des platonischen Leib-Seele-Dualismus in Calvins Theologie, Stuttgart 1996, übernommen. Neu ist die kurze Bezugnahme zur aktuellen Diskussion um Hirnforschung und Transplantationsmedizin (199). Dieser Gedanke wird im Folgenden jedoch nicht weiter ausgeführt. S. weist auf die Bezüge zu Platon in Calvins Werk in der Übernahme des Leib-Seele-Dualismus (paulinisch: Fleisch-Geist-Dualismus) hin. Die Sünde begründet die Differenz zwischen Gott und Mensch. Die Seele muss vom Leib getrennt und vom Heiligen Geist erleuchtet werden. Kernstück des Aufsatzbandes ist der Kommentar zu Calvins Schrift Psychopannychia (247–321). Anmerkungen zum Entstehungshintergrund und Vorschläge zur Gliederung vermitteln einen ersten Überblick. Besonders interessiert sich S. für die Adressaten, die Gegner, die Calvin anspricht. S. schließt daraus: »Die verschiedenen Gegnergruppen Calvins lassen sich nicht eindeutig abgrenzen und es ist deutlich, dass es theologische Mischformen gegeben haben muss, in denen sich häretisches Gedankengut mit reformatorischen und katholischen Überzeugungen vermengt hat.« (291) Einerseits wird zwar immer wieder auf die Täufer verwiesen, die die Lehre vom Seelenschlaf überliefern, andererseits wird »der Typ des rationalen Humanisten und des apokalyptisch orientierten römischen Theologen und eine […] eschatologisch-spiritualistisch gefärbte […] Volksbewegung« (302) als Gegnerschaft vorgeschlagen. S. kommt zu dem Schluss, dass es in der Psychopannychia »verdeckt« um die Legitimation von Macht und Herrschaft geht, wie einerseits die historischen Kontexte in Genf zur Zeit Calvins, andererseits die sprachlichen Bilder belegen, die Calvin verwendet.
Eine Schwierigkeit stellt die Konzeption des Bandes dar: Der Band vereint Aufsätze und Vorträge, die S. an verschiedenen Orten bereits publiziert bzw. vorgetragen hat, mit Kapiteln seiner Dissertation unter einer modernen pädagogischen Fragestellung. Diese wird vor allem in den Aufsätzen zu Melanchthon in den Blick genommen. Immer wieder finden sich Bezüge zu der in der Einleitung formulierten Zielsetzung und Verweise auf neuere pädago-gische Konzeptionen. Dem ursprünglichen »Sitz im Leben« der Melanchthon-Aufsätze ist es geschuldet, dass der Vortragscharakter zu sehr hervortritt (177, Einleitung: »Sehr geehrte Damen und Herren, vor ein paar Minuten ist ein paar Meter von hier die Gedenkveranstaltung an die Reichspogromnacht 1938 zu Ende gegangen.«). Zudem wiederholen sich biographische Passagen über Melanchthon (vgl. 20–26 mit 43–46). Der Judenbücherstreit wird im ersten Aufsatz dreimal erklärt (vgl. 19; 22, Anm. 11; 24) usw. In den Beiträgen zu Calvin wird die übergeordnete Fragestellung kaum noch berücksichtigt. Der Beitrag zur Psychopannychia bietet wertvolles Einleitungswissen. Allerdings bleibt einiges offen: So wird z. B. die Frage nach Calvins Gegnern nicht endgültig gelöst. Auch die Beziehungen, die S. zwischen dem Leib-Seele-Dualismus und dem Wandel der Wirtschaftsformen in Genf zieht, sind mir nicht klar geworden. Das kann daran liegen, dass die Calvin-Aufsätze aus dem Zusammenhang der Dissertationsschrift genommen sind und so bestimmte Kontexte nicht erläutert werden. Eine Straffung und eine stärkere Überarbeitung der Beiträge im Hinblick auf den Gesamtzusammenhang des Aufsatzbandes wären wünschenswert gewesen.
Insgesamt fallen Rechtschreibfehler und formale Ungenauigkeiten (z. B. bibliographische Angaben manchmal direkt im Text, manchmal in Fußnoten) auf, die den Lesefluss stören. Jedes Kapitel schließt mit einem Literaturverzeichnis. Warum werden Quellen so häufig nach dem Internet (z. B. Wikisource) und nicht nach Druckwerken zitiert (z. B. 154 f.)?
Der Aufsatzband bietet erste Einblicke in das weite Themenfeld »Reformation und Humanismus«. Verweise auf die moderne Pä-dagogik, weiterführende Literaturangaben und nicht zuletzt die deutsche Übersetzung der Psychopannychia regen Pädagogen und Theologen zur eigenen Weiterarbeit an.