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Ausgabe: | September/2014 |
Spalte: | 1069–1071 |
Kategorie: | Religionspädagogik, Katechetik |
Autor/Hrsg.: | Krimmer, Evelyn |
Titel/Untertitel: | Evangelischer Religionsunterricht und reflektierte Toleranz. Aufgaben und Möglichkeiten religiöser Bildung im Pluralismus. |
Verlag: | Göttingen: V & R unipress 2013. 362 S. = Arbeiten zur Religionspädagogik, 54. Geb. EUR 49,99. ISBN 978-3-8471-0072-0. |
Rezensent: | Reinhard Wunderlich |
Als Leser fühlt man sich sofort in den wertvoll vernetzten Motivationssog hineingerissen, der die Autorin Evelyn Krimmer während ihrer Arbeit an der ersten »Monographie im deutschsprachigen Raum, die sich aus religionspädagogischer Perspektive mit dem Thema Toleranz auseinandersetzt« (9) beflügelt haben muss zu theoretisch weittragender »Besinnung auf die Leitlinien von Identitätsbildung und dialogischer Auseinandersetzung« für eine »Erziehung zu reflektierter Toleranz« (346) und der sie zu einer punktgenauen Landung mit explizit und exquisit theologischer wie religionspädagogischer Fundierung im praktisch erprobten baden-württembergischen Modell des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts (330–342) ermächtigte.
Die brisante Notwendigkeit für K.s Gedankenflüge ergeben sich geradezu selbstläufig aus ihrer (religions)soziologisch gefärbten »Situationsanalyse« einer zunehmenden Pluralisierung und Individualisierung (27–48), die eine weitverbreitete und auch gefällige »abstrakte Toleranz« (91) erkennen lässt, die selbstgefällig Relativität und Neutralität, ja Standpunktlosigkeit stilisiert – gerade auch im Hinblick auf multikulturelle und damit immer auch multireligiöse Konfliktlinien und Integrationsflächen im freiheitlich-säkularen Gemeinwesen. Im Begriff der abstrakten Toleranz fasst K. Aspekte einer formalen, pragmatischen, universalistischen oder auch nur duldenden Toleranz samt den dahinterstehenden Theoriekonzepten zusammen. Im Windschatten abstrakter Toleranz segelt entsprechend K.s Recherche auch die Erziehungswissenschaft (177–194), die in der freiheitlich motivierten religiösen Abstinenz ihrer (eigentümlich ausgeblendeten) Toleranzvorstellungen selber intolerant zu werden Gefahr laufe (193). Und auch die alternativ zum Konfessionsprinzip entwickelten Konzepte von Religionsunterricht, die auf die religiösen Pluralisierungs- und Individualisierungsdynamiken mit redlichem Bemühen um eine plau- sible Toleranzerziehung ringend reagieren (penibel analysiert werden LER, Hamburger Modell, Ansätze aus England und Wales; 253–317), können sich letztlich nicht der sehr konkret benennbaren Gegenwinde im religionsdidaktischen Dreieck von Schüler, Sache und Lehrer (confusion; dilution; corruption; trivialization; depriva-tion; vgl. 313) erwehren und bleiben allesamt abstrakt, d. h. »einer auf differenztheoretischem Ansatz aufbauenden, reflektierten und pluralismustauglichen Toleranz kaum zuträglich« (316).
Aber was darf man vom Mehrwert reflektierter Toleranz erwarten? Eine kleine Umfrage unter baden-württembergischen Gymnasiallehrern (auf den Seiten 217–250 dokumentiert und ausgewertet) bringt überzeugend zum Ausdruck, wie allein schon der konkrete Raum der Schule an sich mit seiner uneingrenzbaren Heterogenität und also seiner lebensweltlichen Pluralität gelebte und also eingebundene Toleranz erforderlich macht, die nur »am Vorbild, durch soziale Aktivitäten, durch Kenntnis des Andersartigen sowie durch Perspektivenwechsel gelernt werden« (247) kann, dabei aber unweigerlich der große Zusammenhang zwischen Toleranz und Religion unabdingbar ist und Verstehen auf Stehen angewiesen bleibt (um eine Formulierung des Ruhestandspapstes von 1968 hier aufzugreifen). Bindung/Identität und Öffnung/Verständigung gehören also zusammen bis hinein in den Wurzelgrund der jeweiligen Religion bzw. Konfession, speziell in grund-sätzlicher »Religionslehre« im Fächerkanon der öffentlichen Schule.
Mit diesem empirisch erhobenen Ergebnis eines Problembewusstseins für reflektierte Toleranz findet K. elegant bestätigt, was zuvor im Herzstück der Arbeit theologisch und religionspädagogisch profiliert werden konnte (51–177).
Ausgangspunkt ist der »innere(n) Zusammenhang zwischen Protestantismus und Pluralismus« (53, nach Schwöbel). Angesichts der gemeinchristlichen Verankerungsmöglichkeiten von Pluralismus im Proprium des Wahrheitsverständnisses (etwa im kano-nischen Überlieferungsspektrum oder – m. E. besonders relevant und plausibel und leider angesichts konfessioneller Kooperation viel zu wenig genutzt! – in der Trinitätslehre) bleibt diese Engführung über die Rechtfertigungslehre zwar etwas oberflächlich begründet, gleichwohl aber zielführend sehr ertragreich. Denn in der Tat darf »Toleranz nicht gegen den Glauben« eingeklagt, sondern muss »aus dem Glauben gewonnen« werden (79, nach Schwöbel). Und dieser Glaube verlässt sich auf Gottes Toleranz, die gleichermaßen Gerechtfertigte wie Gottlose umfasst. Gott selbst also relativiert sich beziehungslogisch und macht so die weittragende Konsequenz der Unterscheidung von zu tolerierender intoleranter Person und untolerierbarem intoleranten Handeln sinnvoll und salonfähig (vgl. 81). Solche Denkfiguren sind umso leichter in den gegenwärtigen Diskurs einzuspeisen, als aus der prognostizierten »Stadt ohne Gott« immerhin die »Religion in der Stadt ohne Gott« (Cox 1965 und 1984) wurde, was allerdings eines unerlässlich macht: den »Dialog zwischen religiösen Traditionen in einem Zeitalter der Relativität«. Aus dem so betitelten Tübinger Vortrag des Soziologen Peter L. Berger, den K. für die Buchausgabe 2011 aus dem Englischen auch übersetzte, entwickelt sie ihre systematische Toleranzbegründung: Da der eigene Glaube sich immer seiner Kontingenz bewusst sei, toleriere er auch »zuwiderlaufende Glaubensüberzeugungen« als »transzendente Erschließungserfahrungen« und sei dadurch bereit, den Dialog als » Vorbedingung der Toleranz« zu akzeptieren und ihn als »Vollzugsform« zu praktizieren (89 f.).
Mit K. E. Nipkows Aufsatz »Wahrheit und Toleranz – theologische Präzisierungen zum Kern des Glaubensdialogs und interreligiösen Lernens« in dessen Buch »Gott in Bedrängnis? Zur Zukunftsfähigkeit von Religionsunterricht, Schule und Kirche« (2010) gipfelt nach K.s gründlicher Durchsicht religionspädagogischer Beiträge zur Toleranzthematik seit 1949 die Möglichkeit theoretischer Grundlegung einer reflektierten Toleranz, die lange Zeit daran scheiterte, dass Toleranz »nicht als These des christlichen Glaubens […] sondern als Hypothese aufgrund der gesellschaftlichen Situation« (175, nach G. Adam 1982) eingeschätzt wurde. Nipkow dagegen etabliert seine Hermeneutik und Didaktik der »wechselseitigen Anerkennung in Wahrhaftigkeit« im (trinitarischen) Proprium des christlichen Glaubens, wie es die »theologische(n) Leitlinien« des Kirchenamtes der EKD »Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen« aus dem Jahr 2003 im Abschnitt »Die Religionen und die Wahrheit« ausbuchstabieren. Neben der schöpferischen Unterscheidung von Gott und Mensch und der geistvollen Kunst der Unterscheidung weisen die Autoren der Leitlinien auf den christologischen Ereignischarakter der Wahrheit hin. Nipkow greift diese Ebene einer »ereignisförmige(n) Konstitution von Religion« auf, befreit sie aber aus ihrer christologischen Engführung der Leitlinien, indem er eine zweite Ebene der »lehrmäßigen Auslegung bzw. Deutung« einführt (168). Diese geschichtsmächtig gewordene zweite Ebene ist in allen heilsgeschichtlichen Religionen ein Werk der Menschen und insofern nachhaltig strittig. Unstrittig anerkannt sollte aber die souveräne und kontingente Wirkmächtigkeit Gottes im Ereignis seiner jeweiligen Offenbarung sein und bleiben, wie dies Nipkow auch schon im zweiten Band »Bildung in einer pluralen Welt« (1998) insbesondere für den ökumenischen Dialog geltend gemacht hat.
Mit dieser differenzlogischen Grundsatzentscheidung sieht K. den springenden Punkt erreicht, von dem aus nun »eine Didaktik der reflektierten Toleranzerziehung« zu erarbeiten wäre, die »den im Zuge dieser Untersuchung gewonnenen Erkenntnissen Rechnung trägt« (347) – für deren ertragreiche und schlüssige Aufbereitung man sich als Leser nur bedanken kann.