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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

1030–1032

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Arndt, Andreas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Friedrich Schleiermacher in Halle 1804–1807.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2013. VI, 149 S. Kart. EUR 29,95. ISBN 978-3-11-028327-3.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Für die Friedrich Schleiermacher gewidmete große Kritische Ge­samtausgabe begann im Januar 2012 eine neue Etappe: Das aktu-elle Akademienvorhaben heißt nun »Schleiermacher in Berlin 1808–1834. Briefwechsel, Tageskalender, Vorlesungen«. Diesen Um­bruch beging ein am 16. Dezember 2011 abgehaltenes Symposion, das den zuletzt erschienenen, die Jahre 1806 und 1807 dokumentierenden Briefband vorstellte und zugleich Schleiermachers Wirken als Professor in Halle (1804–1807) insgesamt in den Blick rückte. Der vorliegende schmale, doch gehaltvolle Band dokumentiert die Vorträge des Symposions.
»Zur Einführung« erinnert der Bandherausgeber, Arbeitsstellen- und Projektleiter Andreas Arndt knapp an die erste Etappe dieser Schleiermacher-Edition. Ihre Vorgeschichte reicht bis in den Herbst 1979 zurück, mittlerweile konnten in fünf Abteilungen insgesamt 35 Bände der Kritischen Gesamtausgabe erscheinen. Gefördert wurde das Unternehmen zunächst von der Schleiermacherschen Stiftung in Berlin, der Evangelischen Kirche der Union und dem Land Berlin; am Ende, nach manchen Wechseln, stützten es das Akademienprogramm der Bund-Länder-Kommission, die Deutsche Forschungsgemeinschaft sowie die Thyssen-Stiftung. Das nun begründete neue Vorhaben setzt sich zum Ziel, den gewaltigen Briefwechsel, den Schleiermacher seit 1808 bis zu seinem Tod 1834 unterhielt (erhalten sind, größerenteils noch unpubliziert, etwa 1280 an ihn gerichtete und etwa 880 von ihm verfasste Schreiben), in der gewohnten Vorbildlichkeit zu edieren, zudem die beiden reifen Vorlesungen über »Philosophische Ethik« und »Praktische Theologie« unter Beiziehung der erhaltenen Mitschriften kritisch herauszugeben. Außerdem sollen Schleiermachers für 19 (nicht fortlaufende) Jahre erhaltene Tageskalender, die wertvolle Einblicke in sein dichtes Kommunikationsnetz, seine Verpflichtungen, Lebensumstände und Gewohnheiten erlauben, als Internet-Datenbank allgemein zugänglich gemacht werden. Zum Jahresende 2025 mag das alles dann abgeschlossen und vollendet und dem gern als Kirchenvater des 19. Jh.s apostrophierten Theologen damit ein monumentales Editionsdenkmal errichtet sein.
Als Auftakt der vorliegenden Sammlung schildert Notger Slenczka die »Eindrücke einer faszinierenden Lektüre«, die ihm der jüngst erschienene Schleiermacher-Briefband gewährt hat. In ge­raffter Pointierung stellt er dabei die wichtigsten Briefpartner vor, umreißt den Niederschlag der Napoleonischen Kriege und skizziert die von Schleiermacher zumal im Gespräch mit dem Mineralogen Karl Georg von Raumer entwickelte, patriotisch und religiös grundierte Deutung der aktuellen politischen Situation: »Napoleon kreuzigt Deutschland und bereitet so in der Zerstörung alles Brüchigen die Auferstehung vor« (14).
Tiefschürfend erkundet sodann Eilert Herms »Die Bedeutung der Hallenser Professur«. Keineswegs habe Schleiermacher mit dem Aufzug an seinem einstigen Studienort als »ein Suchender ein neues, unbekanntes Gebiet« (29) betreten. Vielmehr kann Herms plausibel machen, dass der angehende Professor bereits vorher die entscheidenden theoretischen Grundlagen für sein akademisches Amt hatte anlegen können. Zu diesen Voraussetzungen zähle im Übrigen auch der Wunsch, in Personalunion für Theologie und Kirche verantwortlich tätig zu sein: Während die geplante Würzburger Professur auf Schleiermachers Betreiben mit einer Predigerstelle verbunden werden sollte, sah sich das dann in Halle realisierte Amt des Universitätspredigers sogleich mit einer, wenn auch außerplanmäßigen, durch Einzug einer Stelle am Reformierten Gymnasium finanzierten akademischen Dozentur kombiniert. Von An­fang verfolgte das in Halle absolvierte Vorlesungsangebot, wie Herms einleuchtend zu machen weiß, ein enzyklopädisches Ge­samtkonzept (vgl. 26 f.). Man wird es freilich kaum als das »eigentliche Karriereziel« des »Religionsdieners« (24) ansprechen können, wenn Schleiermacher damals seinem Freund Joachim Christian Gaß launig anvertraute, er wolle die Dozentur allenfalls bis zum 50. Lebensjahr ausfüllen – »denn länger taugt man nicht zum Professor« – und sich danach »gern in die ruhige Stelle des bloßen Predigerlebens zurükzihen« (25).
Hermann Patsch durchmustert »Schleiermachers theologische Schriften der Hallenser Zeit«. Besonderes Gewicht legt er dabei auf dessen Rezensionstätigkeit, namentlich zu Schriften von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Johann Friedrich Zöllner, Johann Joachim Spalding und Friedrich Samuel Gottfried Sack, ferner auf »Die Weihnachtsfeier«, die tiefgreifend überarbeitete zweite Auflage der Reden »Über die Religion« sowie das Sendschreiben »Über den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos«. Es mag angemerkt sein, dass der zweifache Selbstverweis auf einen sich »im Druck« befindenden Handbuchartikel (31, Anm. 1; 35, Anm. 14) der dafür geplanten Drucklegung tatsächlich weit vorausgreift. Komplementär dazu rekonstruiert Andreas Arndt die »Grundlegung der Philosophie in den Hallenser Vorlesungen«. Während Schleiermachers erstes Ethik-Kolleg aus dem Wintersemester 1804/05 nur rudimentär dokumentiert ist, liegen für die zweite, ein Jahr später gehaltene Vorlesung dieser Art nicht nur Schleiermachers Manuskript, sondern dazu auch vier ausführliche studentische Nachschriften vor (eine davon aus der Feder des späteren Altphilologen August Boeckh), auf deren Grundlage die anlaufende, der späteren Berliner Ethik-Vorlesung gewidmete Editionsarbeit eindrucksvoll illustriert wird.
Aus dem als »Brouillon zur Ethik« firmierenden Manuskript jener zweiten Hallenser Vorlesung ziseliert Wilhelm Gräb in präziser Textanalyse »Die anfängliche Ausbildung des Kulturbegriffs in Schleiermachers Ethik« heraus. Augenscheinlich hat der junge Dozent seinerzeit, wohl unter dem Einfluss des von ihm namentlich nicht genannten Herder, diesen Terminus »zur Beschreibung seines ganzen Vorhabens« (79) gegenüber dem Geschichtsbegriff deutlich bevorzugt, wovon zumal die ausführlichen studentischen Mitschriften beredtes Zeugnis ablegen. Zugleich scheint Schleiermacher aber schon damals durch die konnotative Unschärfe des Kulturbegriffs – als werde damit, durch Rousseau vorgeprägt, ein elitärer Bildungsanspruch erhoben – verunsichert worden zu sein. Jedenfalls ist die Schlussfolgerung, die Gräb zieht, einleuchtend und nachvollziehbar: »Da er […] offensichtlich fürchtete, der Kulturbegriff könnte der Klarheit dieser sozial-anthropologischen Grundeinsicht seiner Ethik einerseits, deren geschichtsphilosophischer Weite andererseits abträglich sein, hat er, so vermute ich, dem Kulturbegriff in seinen späteren Berliner Ethik-Vorlesungen keine zentrale Bedeutung mehr gegeben« (89).
Kundig und in der theoretischen Durchdringung höchst anregend fragt Sarah Schmidt nach der zwischen Schleiermacher und dem Naturphilosophen Heinrich Steffens angeblich waltenden »Symphilosophie«. Sie ergründet die zwischen den beiden Denkern sich ausbildende »wissenschaftlich-freundschaftliche Emphase«, analysiert daraufhin auch beiderseits einschlägige Texte und zieht nach scharfsinnigen Analysen die auf das wechselseitige Verhältnis zielende »formelartige vorläufige Bilanz«: »Herzensfreunde: ja; philosophische ›Waffenbrüder‹, die in grundlegenden romantischen Positionen übereinstimmten: ja; Symphilosophen: nein« (114). Was Slenczka eingangs berührt hatte, unterzieht Simon Gerber minutiöser Erkundung: Auf den Spuren, die »Politik, Krieg und Zeitdeutung« im Hallenser Briefwechsel hinterlassen hatten, entwickelt er Schleiermachers Wandlung zum radikalen preußischen Patrioten. Gleichsam als ein donum superadditum ist schließlich von demselben Autor noch eine gute, anschaulich essayistische Rekonstruktion der Harzreise beigefügt, die Schleiermacher, dieser »wackere Fußwanderer« (133) – indessen: Wie anders als zu Fuß sollte man damals gewandert sein, als es nicht allein, wie Wolfgang Virmond treffend festhält, »noch kein Kino, kein Fernsehen« (68) gab, sondern selbstverständlich auch weder Fahrrad noch Auto? –, im Jahre 1806 zusammen mit Steffens und einigen Studenten unternommen hatte.
Dass der Band vereinzelte Wiederholungen aufweist, scheint das offenbar unvermeidliche Schicksal derartiger Anthologien zu sein und beeinträchtigt weder den Lesefluss noch das Erkenntnisvergnügen. Verdienstvoll ist das detaillierte Verzeichnis aller bisher in der Kritischen Gesamtausgabe erschienenen Bände (139 f.). Lediglich das Personenregister (147–149) hätte noch kundiger Durchsicht bedurft. Jedenfalls stammte weder Kaiser Napoleon I. aus dem Geschlecht »Frankreich«, noch trug Jesus den Nachnamen »Christus«, und auf dem Türschild von Kaiser Franz II. stand gewiss nicht »Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation«.