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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

1023–1025

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Gronauer, Gerhard

Titel/Untertitel:

Der Staat Israel im westdeutschen Pro-tes­tantismus. Wahrnehmungen in Kirche und Publizistik von 1948 bis 1972.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 518 S. m. 1 Tab. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 57. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-525-55772-3.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

Vor dem Hintergrund der Judenvernichtung durch das nationalsozialistische Deutschland gehört die Beschäftigung mit dem Staat Israel und dem Nahostkonflikt seit Jahrzehnten zu den herausragenden Themen der weltlichen und kirchlichen Presse in Deutschland. Dabei geht es meist auch um Fragen der Schuldbewältigung und zugleich um eine als problematisch empfundene Selbstfindung im Gegenüber von Deutschen zu Israelis oder Christen zu Juden. Die Studie von Gerhard Gronauer, die sich mit dem westdeutschen Protestantismus im angegebenen Zeitraum beschäftigt, enthält nach einer Einleitung mit Bemerkungen zur Forschungslage und Methodologie einen zeitgeschichtlichen und einen auf die kirchliche Publizistik bezogenen Teil. Beide Kapitel sind in sich wieder in drei Phasen – 1948 bis 1958/59; 1958/59 bis zum Sechs-Tage-Krieg (1967) und nach 1967 – gegliedert. Einleitend geht der Vf. auf das Gedicht von Günter Grass (»Was gesagt werden muss«) vom April 2012 und auf die im Deutschen Pfarrerblatt veröffentlichten israelkritischen Thesen von Jochen Vollmer (»Vom Nationalgott Jahwe zum Herrn der Welt und aller Völker«) vom August 2011 ein und fragt mit Michael Naumann, dem ehemaligen Chefredakteur der ZEIT, ob sich hier ein »neuer deutscher Tonfall« zu erkennen gebe, »der sich gegenüber Israel überheblich und einseitig kritisch artikuliere« (16). Der Durchgang durch ein knappes Vierteljahrhundert kirchlicher Zeitgeschichte widerlegt aber die Vermutung von einer anfangs israelfreundlichen Haltung, die erst später israelkritisch geworden sei (402). Das Verhältnis der evangelischen Kirchen zum Staat Israel war vielmehr von Anfang an ambivalent, und proarabische und proisraelische Akteure kämpften seit den 1950er Jahren um Einfluss. Auffällig ist immerhin, dass das Bekenntnis zum Existenzrecht des Staates Israel sich recht früh herausbildete, wie Äußerungen zu erkennen geben, die aus völkerrechtlicher Hinsicht zwar als irrelevant galten (Staaten suchen die Anerkennung von Staaten, nicht von Kirchen), die aber nicht be­deutungslos waren, weil es Gründe hätte geben können, dieses Existenzrecht theologisch zu bestreiten.
In den 50er Jahren waren die kirchlichen Stellungnahmen von Fragen der Palästina- und Judenmission bestimmt; daneben spielte das Luxemburger »Schilumim«-Abkommen vom September 1952 (»Wiedergutmachung«) eine Rolle, zu dem die EKD sich aber offiziell bedeckt hielt, weil man »auf die seelische und wirtschaftliche Lage« des deutschen Volkes Rücksicht nahm (373). Zeitgleich – beginnend mit dem Heidelberger Kreisdekan Hermann Maas (1950) – kam es aber zu Israelreisen (Heinrich Grüber, Adolf Freudenberg und Helmut Gollwitzer als Einzelpersonen, Friedrich-Wilhelm Marquardt und Rudolf Weckerling mit Studentengruppen), die häufig in den Rang »theologischer Erfahrungen« gehoben wurden (374). Hier bereitete sich eine Deutung der neueren Ge­schichte des Judentums von der Schoah zur Staatsgründung Israels vor, die bei einigen Protagonisten im Kontext des Sechs-Tage-Krieges in eine regelrechte Israelbegeisterung mündete. Zu Recht kritisiert der Vf. in diesem Zusammenhang den »undifferenzierte(n) Gebrauch des Israel-Begriffs«, wenn in einem Appell des Evange-lischen Arbeitskreises ›Kirche und Israel‹ in Hessen und Nassau vom Mai 1967 »erwähltes Gottesvolk und Staat Israel« nahezu »in eins« fielen und Theologie (Bund) »in einem allzu rasanten Schritt in Politik« überging (202). Den öffentlichen Äußerungen des Berliner Bischofs Kurt Scharf, die bei Beobachtern den Eindruck hervorriefen, Christen und Juden beteten »gemeinsam für einen Sieg Israels« (205), stehen in dieser Hinsicht aber viel zurückhaltendere Stellungnahmen des bayerischen Landesbischofs und EKD-Ratsvorsitzenden Dietzfelbinger gegenüber. Wie ein Vorspiel späterer Kontroversen mit Vertretern der christlich motivierten Palästinasolidarität und der Neuen Linken wirken Berichte von einer Tagung der Christlichen Friedenskonferenz (CFK), die die politischen Interessen des sowjetisch geführten Blocks vertrat, am 4. Juli 1967 im Kloster Sagorsk bei Moskau. Es kam zu einer Kontroverse von Vertretern einer an Karl Barth orientierten Theologie: die CFK unter der Präsidentschaft des Prager Theologen J. Hromádka kritisierte den israelischen »Aggressionskrieg«, während H. Gollwitzer auf seiner »im Kirchenkampf notvoll gewonnene(n) theologische(n) Einsicht« beharrte, »dass Gottes Treue auch heute über dem jüdischen Volk in Kraft geblieben sei und die Juden im Staat Israel auch unter dieser Verheißung stünden« (218).
Im Umfeld dieser Debatten hat der Vf. Zitate zusammengetragen, die von Stellungnahmen zum heilsgeschichtlichen Sinn der Verfolgungsgeschichte der Juden (»göttliches Gericht«) und der Staatsgründung Israels (»eine Art Gottesbeweis«) – so deutet der Vf. einen Synodalbericht von Bischof Scharf vom Juni 1967 – über die Skizze apokalyptischer Szenarien bis hin zu Deutungen von Röm 9–11 her und unterschiedlichen Vergleichen des Nahost-Geschehens mit dem NS-Völkermord reichen (211–218). Aus dem Rahmen fallen Äußerungen Martin Niemöllers, der mit Blick auf die Israelis von der Präsenz eines fremden Volkes auf arabischem Boden sprach (220 f.). Mit Befremden liest man andererseits theologisch unreflektierte und religionskundlich unbedarfte Expektorationen von Vertretern der frühen Israeltheologie: H. Gollwitzer, der angesichts der »Kraft, Natürlichkeit, Schönheit« und »Frische« der israelischen Jugend »ins Schwärmen« geriet (135), schrieb anlässlich seiner Israelreise 1958, damals habe er sinnlich erfasst, dass »Jerusalem eine Stadt auf Erden ist« (129). F.-W. Marquardt deutete seine erste Israelreise als »zweite Taufe« und bekannte, dies Erlebnis sei Anlass für sein ganzes späteres theologisches Unternehmen ge-wesen (131).
Bei diesen Passagen zeigt sich, wie wichtig es ist, die jeweiligen jüdischen Gesprächspartner in die Analyse einzubeziehen. Die Deutung »der blühenden Landschaften der Scharon-Ebene« (111) und die Zeichnung des Kibbuzlebens im Lichte des Alten Testaments erweisen sich auch deshalb als Missverständnis, weil die israelischen Akteure fast ausschließlich konsequente Säkularisten waren, die die Bibel als reines Geschichtsbuch lasen und deren Bibellektüre – von der jüdischen Geschichte her betrachtet, durchaus kulturrevolutionär – zugleich den für orthodoxe Juden zentralen Talmud ausschloss. Die Frage, ob heutige Israelis »in Kontinuität zu dem seit alters her bestehenden Volk Gottes« zu sehen sind, wie F. W. Marquardt behauptete (213), stellt sich dann anders, und man versteht den vom Vf. nur angedeuteten Dissens Marquardts zum ehemaligen badischen Landesrabbiner Robert Raphael Geis, der während des Holocaust nach Palästina geflohen, nach dem Weltkrieg aber nach Europa und sogar Deutschland zurückgekehrt war und offenbar nicht (auch nicht von christlichen Theologen) zionistisch vereinnahmt werden wollte.
Zum Aufbau der Arbeit: Die eingangs vorgestellten Hypothesen wirken künstlich und überflüssig; auch stört das im zweiten Teil verwandte etwas ge­stelzte Klassifizierungssystem – beide Me­thoden mögen heute für eine Doktorarbeit notwendig sein, sind für eine Buchveröffentlichung aber entbehrlich und führen immer wieder zu Redundanzen.
Zu loben sind aber eine Zeittafel, ein Glossar hebräischer und arabischer Begriffe und ein (allerdings nicht vollständiges) Personenregister mit biographischen Angaben. Verwunderlich ist vor allem das Fehlen des Gründers des Tübinger Institutum Judaicum, Otto Michel.