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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

1021–1023

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Dorhs, Michael [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirche im Widerspruch. Bd. II.

Verlag:

3 Teil-bde. Darmstadt: Verlag der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 2013. Teilbd. 1: Texte aus der Bekennenden Kirche Kurhessen-Waldeck 1936. VIII, 421 S. = Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, 18. ISBN 978-3-931849-36-8. Teilbd. 2: Texte aus der Bekennenden Kirche Kurhessen-Waldeck 1937–1940. X, 533 S. = Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, 19. ISBN 978-3-931849-37-5. Teilbd. 3: Texte aus der Bekennenden Kirche Kurhessen-Waldeck 1941–1945. X, 473 S. = Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, 20. ISBN 978-3-931849-38-2. Geb. je EUR 28,00.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Diese dreiteilige Quellenedition präsentiert den zweiten Band einer vorbildlich gearbeiteten mikrohistorischen Spurensicherung zur Geschichte der Bekennenden Kirche in Kurhessen-Waldeck. In nahtloser Anknüpfung an den 1996 erschienenen ersten Band und bei fortlaufender Zählung der Dokumente kommt nun die Zeit von der Einsetzung eines Landeskirchenausschusses in Kassel 1936 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Sicht. Die Anfänge des hier anzuzeigenden Unternehmens reichen bis in das Jahr 1991 zurück. Insgesamt 14 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirkten dabei zusammen, und auch wenn ein Editionsausschuss die formale Einheitlichkeit sicherstellte, bleibt doch der eigenverantwortliche Anteil der einzelnen Editoren allenthalben ersichtlich. Die ausgewählten Dokumente entstammen im Wesentlichen dem Landeskirchlichen Archiv Kassel, dessen Bestände aus der fraglichen Zeit vollständig gesichtet wurden. Nur in Einzelfällen zog man, wenn Lücken zu füllen waren oder Ergänzungen sinnvoll erschienen, auch anderswo gelagerte Archivalien noch hinzu.
Durchweg sind die Quellentexte mit guter, eingehender Kommentierung versehen. Die dabei erbrachte Rechercheleistung verdient höchst respektvolles Lob: Alle genannten Personen, Ereignisse und Schriften werden, auch in ihren überregionalen Bezügen, derart präzise, findig und kenntnisreich kommentiert, dass jedes einzelne Dokument mühelos aus sich selbst zu verstehen ist. Das wichtigste Personal wird dazu auch in einer wertvollen Serie von Biogrammen im Anhang der Dokumentation (III, 330–458) kenntlich gemacht.
Während der erste Band ausschließlich Rundbriefe der Kirchenleitung geboten hatte, findet sich nun darüber hinaus eine Vielfalt von Genera. Nachdem die Rundbriefe 1937 von staatlicher Seite endgültig verboten worden waren, musste die Bekennende Kirche in Kurhessen-Waldeck zunehmend auf andere Kommunikationsformen ausweichen. Eindrucksvoll bezeugen die in dieser Dokumentation aufscheinenden Privatbriefe, Protokolle, Einladungen, Eingaben, Aufrufe, Vermerke und Erklärungen aller Art die elas-tische Beharrlichkeit, gegenüber den zunehmenden staatlichen Repressionsmaßnahmen gleichwohl binnenkirchliche Freiräume zu behaupten und zu erschließen. Dass die Dokumentendichte seit Herbst 1939 stetig zurückging, ist aus der kriegsbedingten Papierrationierung ebenso zu erklären wie aus dem Umstand, dass im­mer mehr BK-Pfarrer zum Kriegsdienst eingezogen und damit ihrer kirchlichen Arbeit enthoben wurden.
Dem Eindruck des Herausgebers, die in diesen Quellen verhandelten Diskussionsthemen seien »vielfältig« gewesen (I, 6), mag man indessen nur halbherzig zustimmen. Selbstverständlich wird die Frage nach der Gestalt und Autorität einer legitimen Kirchenleitung in allen Facetten erörtert und dabei nicht selten auch in grundsätzliche ekklesiologische Dimensionen vertieft – ein Um­stand übrigens, der wieder einmal zu erkennen gibt, dass der 1918 eingetretene zäsurale Statuswechsel der evangelischen Kirche in den 1930er Jahren noch längst nicht aufgearbeitet oder verdaut worden war. Breiten Raum beanspruchen daneben auch die Probleme, die sich aus der Notwendigkeit, das ertastete bekenntniskirchliche Selbstverständnis in den zermürbenden Niederungen vor Ort sachgemäß umzusetzen, ergaben. So schildert der Vorsitzende des Landesbruderrats Hans von Soden anschaulich die Schwierigkeiten, die aus der Mitwirkung eines »nationalkirchlichen Geistlichen« an der Investitur eines Bekenntnispfarrers entstanden (II, 443–450), und Friedrich Wilhelm Wibbelding, der als Pfarrer in Langendiebach amtierte – nach Kriegsende sollte er dann die Propstei des Sprengels Hanau übernehmen –, berichtet von einer »in korrekter Form« vollzogenen Vernehmung durch die Ortspolizei, zu der man ihn einbestellt hatte, weil seine vor dem kirchlichen Mädchenchor geäußerte Bemerkung, das Lied »Hohe Nacht der klaren Sterne« sei heidnisch und werde nur von den »Dummen« gesungen, denunziert worden war (III, 218–220). Auffallend breiten Raum forderte auch die Debatte um Rudolf Bultmann und dessen hermeneutisches Entmythologisierungsprogramm.
Was insofern tatsächlich als »vielfältig« erscheinen mag, kommt andererseits doch durchweg darin überein, dass dabei immer nur die bekenntniskirchliche Binnenperspektive thematisiert worden ist. Dadurch könnte der tendenziell schon seit geraumer Zeit sich manifestierende Eindruck verstärkt werden, die Bekennende Kirche sei vorwiegend oder doch zu erheblichen Teilen mit sich selbst beschäftigt gewesen. Jedenfalls ist in den hier präsentierten Dokumenten von einer Deportation der Juden und den sogenannten Euthanasie-Maßnahmen, die beide doch auch in Kurhessen-Waldeck zu beobachten waren, desgleichen von der kirchlichen Umsetzung des »Arierparagraphen« oder dem Novemberpogrom 1938 (fast) gar nicht die Rede.
Der Doppelsinn des Titels ist beabsichtigt: Die Bekenntniskirche zu Kurhessen-Waldeck stand im Widerspruch zu den Irrlehren der Deutschen Christen, und zugleich wurde sie durch die Ambivalenzen, die sie aus sich selbst hervorbrachte, zusehends zermürbt. Seit 1936 war die Bedeutung des deutsch-christlichen Gegners im Land »nur noch marginal« (I, 7). Auch der staatlich eingesetzte Landeskirchenausschuss konnte weithin mit bekenntnistreuem Personal besetzt und dadurch insgesamt als durchaus hilfreich empfunden werden. Gleichwohl nahmen nun die inneren Spannungen immer mehr zu: Dem Landesbruderrat wurde vielfach unzureichendes Engagement vorgeworfen, ein ekklesiologischer Grundkonsens blieb weiterhin unerreichbar, die Austritte aus der Bekenntnisfront mehrten sich, kurz: Wie allenthalben zu damaliger Zeit, so waren auch »die ca. 234 kurhessen-waldeckischen BK-Pfarrer alles andere als ein monolithischer Block« (I, 7).
Die vorliegende, rundum verdienstvolle Edition ist in zweifacher Hinsicht begrenzt. Dieser Umstand soll ihr keinesfalls zur Last gelegt werden, ist freilich in der Rezeption des Bandes unbedingt zu beachten. So endet die Dokumentation mit dem Kriegsende im Mai 1945. Dass ihr darüber hinaus noch drei Dokumente aus den nächstfolgenden Monaten beigefügt sind, die als »Belege für eine erste binnenkirchliche Reflexion der eigenen Situation nach zwölf Jahren NS-Herrschaft« (I, 2) dienen sollen, vermag kaum zu befriedigen, da doch einerseits diese Reflexion deutlich früher und verstärkt seit der alliierten Besetzung des Territoriums einsetzte. Andererseits können die präsentierten drei Quellentexte aus dem Sommer 1945 kaum als repräsentativ eingeschätzt werden, und schon gar nicht ersetzen sie eine eigenständige, für die Nachkriegszeit in vergleichbarem Zuschnitt erforderliche oder doch wünschenswerte Dokumentation.
Die andere Grenzziehung ergibt sich aus der Absicht, die »Perspektive der Bekennenden Kirche Kurhessen-Waldecks« (I, 37) zu fokussieren. Der Wert dieser Quellenpräsentation bleibt davon ganz unberührt. Allerdings bildet sie dergestalt nur einen Teil der gesamtkirchengeschichtlichen Wahrnehmung ab. Für ein umfassendes Porträt der Territorialkirchengeschichte in nationalsozialistischer Zeit wären darüber hinaus auch die Struktur und Wirksamkeit der deutsch-christlichen Kirchenpartei einzubeziehen und erst recht die weder organisierte noch auch nur vernetzte Gruppe der vielen »neutralen« Pfarrer des Landes, die zwischen staatsbürgerlicher Loyalität und kirchlicher Traditions- und Be­kenntnistreue eine individuelle, nicht selten tragisch verlaufende Gratwanderung zu vollziehen suchten. Im Übrigen müsste wohl auch die schleichende gesellschaftliche Marginalisierung der Evangelischen Kirche in jener Zeit reflektiert werden, zumal ein Rundbrief des Bruderrates von Kurhessen-Waldeck schon im März 1936 mit der Feststellung einsetzte: »Es ist äußerlich still geworden um die Kirche.« (I, 127)
So mag aus dem Abschluss dieser uneingeschränkt begrüßenswerten Edition zugleich ein neuer Aufbruch hervorgehen: Für eine Gesamtdarstellung der Geschichte der kurhessen-waldeckischen Kirche in dunkler Zeit sind die Voraussetzungen heute so günstig wie nie zuvor!